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Walter Ulbricht (German Edition)

Walter Ulbricht (German Edition)

Titel: Walter Ulbricht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Egon Krenz (Hrsg.)
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Anblick ist hilfreich intim und lockert die Anspannung, mit der wohl jeder so platzierte Tisch-Genosse zu kämpfen hätte.
    Guten Tag, sage ich.
    Guten Tag, sagt Walter Ulbricht, flüchtig aufschauend.
    Nach einer gefühlten Ewigkeit beginnt er das Gespräch.
    »Also du bist der, der immer die Lieder macht?«
    »Ich schreibe auch Lieder. Aber wir sind ein ganzer Klub von Leuten, die texten, komponieren und singen.«
    »Klub? Wieso denn Klub? – Sicher doch ein Chor?«
    »Nicht direkt ein Chor. Eben Leute, die gemeinsam Programme gestalten, Lieder schreiben und singen. Ziemlich locker das Ganze.«
    »Alles schön und gut. Aber ein Klub ist das nicht. Sagen wir, es ist so eine Art chorische Bewegung.«
    Es ist auch keine chorische Bewegung, aber das Hauptgericht wird serviert.
    Als die Kellner abgeräumt haben, setzt Walter Ulbricht das Gespräch fort: »Ich habe ganz andere Probleme, ja!«
    Das ist selbstverständlich.
    »Ich habe da eine Kommission, die hat nichts weiter zu tun, als zu gucken, wo es in der Welt Weltniveau gibt. Wenn die – sagen wir – eine Woche, zwei oder drei Wochen gar nichts tut, ist das ihr Problem. Aber wehe, ich kriege raus, dass es irgendwo in der Welt Weltniveau gibt, und die hat das nicht rausgekriegt, dann geht’s ihr an den Kragen.«
    Freilich weiß ich das Gröbste über das NÖS, das Neue Ökonomische System der Planung und Leitung der Volkswirtschaft, und kann mir zusammenreimen, wie sehr erfolgreiches Auftreten auf dem Markt und Kenntnis internationaler Standards und Innovationen zusammenhängen. Aber ich erkenne hinter dem leichtfertig belächelten Tonfall unseres Staatenlenkers noch nicht die hintergründigen Dimensionen seines Denkens.
    Der Nachtisch muss sich beeilen. Lotte Ulbricht, die sich nicht an unseren Tisch setzen ließ, hat die Tagungsfäden fest in der Hand. »Genosse Staatsratvorsitzender, hast du mal auf die Uhr geguckt?«
    Walter Ulbricht sagt: »Da haben wir uns ganz schön verplauscht.« Steht auf und führt den Zug der Staatsratsmitglieder und Gäste zurück in den Tagungsraum. Klaus Gysi endlich weiß, wo das dringlich gesuchte Kabinett ist. Dort sagt er: »Na, da hast du ja einen prominenten Tischpartner erwischt.«
    »Er hat mir von einer Kommission erzählt, die für ihn das Weltniveau sucht.«
    »Ja, solche Kommissionen hat er gerne«, sagt Gysi. Das klingt ein bisschen despektierlich.
    Aber ich kann mich irren.
    Ich begegne Walter Ulbricht noch ein zweites Mal – im Mai 1971 auf dem Parlament der FDJ. Da ich in Leipzig studiere, bin ich ein Delegierter dieses Bezirks. Und als für die Presse das obligate Protokollfoto »Genosse Ulbricht im Kreise von Jugendlichen seiner Geburtsstadt« gemacht werden soll, schickt mich FDJ-Chef Günther Jahn in diese heikle Runde. Heikel deshalb, weil Walter Ulbricht kurz zuvor von seiner Funktion als Erster Sekretär des Zentralkomitees der SED entbunden wurde. Formal geschah das »auf eigenen Wunsch«, um »diese Funktion in jüngere Hände« zu geben. Faktisch aber handelte es sich um eine Entmachtung, auch wenn Walter Ulbricht zum Vorsitzenden der SED gewählt wurde und überdies Staatsratsvorsitzender blieb. Neuer Erster Sekretär ist Erich Honecker. Wie das alles vorbereitet wurde, lerne ich später. Aber im Umfeld des Fototermins spüre ich: Es knistert im politischen Gebälk. Keiner will sich den Mund verbrennen.
    Günther Jahn sagt: »Hartmut, das Beste wird sein, du erzählst dem Genossen Ulbricht über die Singebewegung. Einfach frei von der Leber weg.«
    »Und wenn er das gar nicht hören will?«
    »Nur zu! Über die Singebewegung!«
    Der Palast der Republik ist noch nicht gebaut. Parlamente der FDJ – wie auch die SED-Parteitage – finden in der Werner-Seelenbinder-Halle, nicht weit vom Friedrichshain, statt. Der Fototermin ist in einem der Rückzugsräume des Tagungspräsidiums anberaumt. Günther Jahn, der am liebsten stumm geblieben wäre, steht natürlich auch in dieser Runde und weiß, dass er zumindest das Eis brechen muss. »Der Genosse König will dir was von der Singebewegung der FDJ erzählen.« Walter Ulbricht schaut rüber, den Körper leicht nach hinten gebeugt, die Hände über dem Bauch verschränkt. Die Augen altersmüde und von Wasserwölkchen getrübt.
    »Ja, was soll ich erzählen? Wir sind so ein Klub. Der Oktoberklub …«
    »Klub? Was soll das heißen – ein Klub? Seid ihr vielleicht ein Chor?«
    »Nein, kein Chor. Ein Klub eben, wir machen gemeinsam Programme, schreiben Texte und

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