Walter Ulbricht (German Edition)
Sozialismus fortzusetzen und zu vollenden, als solchen Ländern wie Polen und Ungarn.
Die DDR befand sich stets in einer komplizierten Lage, die an die politische Führung hohe Anforderungen stellte. Sie war einerseits in sehr starkem Maße von der Sowjetunion abhängig, andererseits war sie ständig mit dem anderen deutschen Staat BRD konfrontiert, dessen erklärtes Staatsziel die Beseitigung der DDR war. Trotzdem bestanden vielfältige Beziehungen, Verflechtungen und Kontakte zwischen den beiden deutschen Staaten und ihren Bürgern, die aus der gemeinsamen Geschichte stammten, weshalb die nationale Problematik stets berücksichtigt werden musste.
Ich halte es für einen Beweis der politischen und staatsmännischen Qualitäten Walter Ulbrichts, dass er fähig war, die DDR durch die mit dieser Lage verbundenen Fährnisse zu bringen und dabei zielstrebig die ökonomischen, sozialen, politischen und ideologischen Aufgaben im Blick zu behalten, die in der Übergangsperiode zum Sozialismus zu lösen waren. So gelang es trotz mancher Schwierigkeiten, in der DDR die Grundlagen des Sozialismus zu schaffen, und zu Beginn der 60er Jahre entstand nun die Frage, wie die Entwicklung der sozialistischen Gesellschaft weiter verlaufen sollte.
Entsprechend der von Stalin geprägten Sozialismustheorie wäre nach dem Abschluss der Übergangsperiode und dem damit erreichten »Sieg des Sozialismus« der Übergang zum Aufbau des Kommunismus, also der höheren Phase der neuen Gesellschaftformation, als nächste strategische Aufgabe zu stellen. Das hatte Stalin seit dem XVIII. Parteitag 1935 in mehreren Reden ebenso wie auf dem XVIII. Parteitag der KPdSU 1939 erklärt, und dies blieb auch im neuen Parteiprogramm der KPdSU von 1961 unter Chruschtschow die strategische Grundlinie. Denn dort wurde als Aufgabe formuliert, im Verlauf der nächsten zwanzig Jahre die höhere Entwicklungsphase der neuen Gesellschaftsformation, den Kommunismus, im Wesentlichen zu errichten. Dieser Auffassung vom Sozialismus und Kommunismus lag die Annahme zugrunde, dass der Sozialismus lediglich eine kurze Übergangsphase zwischen Kapitalismus und Kommunismus bilde, die keine eigenständige sozialökonomische und politische Qualität aufweise, sondern mehr eine Mischung aus »Muttermalen des Kapitalismus« und »Keimen des Kommunismus« sei.
Statt den Sozialismus als gesellschaftliches System in seiner Totalität zu entwickeln, es auf seinen eigenen Grundlagen und entsprechend seinen Gesetzmäßigkeiten weiter zu vervollkommnen, bis es den ökonomischen, sozialen und geistigen Reifegrad erreicht hat, welcher den Übergang in die höhere Phase des Kommunismus ermöglicht, sollte dieses sozialistische Zwischenstadium möglichst schnell durchlaufen werden, damit das große Ziel der kommunistischen Gesellschaft erreicht werde, in der die Klassenunterschiede aufgehoben seien, der Staat abstürbe, materieller Überfluss herrsche und alle Bedingungen für die freie Entfaltung der Individuen bestehen würden. Zweifellos enthielten diese illusorischen Vorstellungen und Zukunftserwartungen auch Elemente des Chiliasmus und der ideellen Flucht aus den Schwierigkeiten und Unzulänglichkeiten der noch unvollkommenen sozialistischen Gesellschaft. Da die Kritik am Personenkult um Stalin dessen theoretische Auffassungen aber noch weitgehend ausklammerte und diese weiter als konstitutive Bestandteile des Marxismus-Leninismus galten, kamen derartige Auffassungen über den bald möglichen Übergang zum Kommunismus in der SED ebenso auf wie in anderen sozialistischen Ländern.
Es spricht für den Realitätssinn Walter Ulbrichts, dass er sich auf illusorische Vorhaben nicht einließ, sondern eine gründliche Bestandsaufnahme und objektive Bewertung des bisher erreichten Entwicklungsstandes der Gesellschaft, ihrer Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse, der Arbeitsproduktivität und der ökonomischen Leistungsfähigkeit wie auch des gesellschaftlichen Bewusstseins der Menschen zur Grundlage der weiteren Aufgabenstellung machte.
Auch widerstand er – im Unterschied zu Chruschtschow – der Versuchung des Ehrgeizes, seine Person und seinen Namen mit dem Erreichen des kommunistischen Zieles zu verbinden, und zeigte damit, dass es ihm um die Sache und nicht um persönlichen Ruhm ging. Aus den Erfahrungen der bisherigen Entwicklung der DDR war ihm klar geworden, dass die einfachen Formeln Stalins nicht geeignet waren, derart komplizierte und langwierige gesellschaftliche
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