Walter Ulbricht (German Edition)
könne. Eine solche Erklärung führt doch – wie ich dachte – direkt zu einer idealistischen Geschichtsauffassung, die mit dem Marxismus unvereinbar war. Auf welchen sozialen Grundlagen und Strukturen und mittels welcher Funktionsmechanismen der Partei und des Staates konnten derartige Deformationen und Entar-tungserscheinungen in einer sozialistischen Gesellschaft entstehen?
Die Anprangerung und die Verurteilung verbrecherischer Handlungen einer einzelnen Führungsperson konnten eine historisch-materialistische Analyse der objektiven gesellschaftlichen, politischen und ideologischen Bedingungen, auf deren Boden derartige Auswüchse möglich wurden, nicht ersetzen, ganz abgesehen davon, dass zur Ausführung aller inkriminierten Taten immer eine große Zahl von Mitwirkenden und von exekutiven Apparaten erforderlich war.
Ich sah daher in der Rede Chruschtschows und in der Theorie vom Personenkult einerseits einen Versuch, sich von Stalin und dem stalinistischen System in einem gewissen Umfang zu distanzieren, zugleich aber auch eine weitgehende Rechtfertigung und Verharmlosung, womit ich mich absolut nicht einverstanden erklären konnte.
Wenngleich ich mit meiner Auffassung im Institut auch ziemlich allein stand, gab es innerhalb der Partei und vor allem unter Intellektuellen doch leidenschaftliche Diskussionen über diese Probleme, und viele Auffassungen gingen in die gleiche Richtung.
In meiner Haltung wurde ich durch ein Interview Palmiro Togliattis bestärkt, der die sowjetische Führung sehr nachdrücklich aufforderte, im Sinne eines marxistischen Herangehens die objektiven gesellschaftlichen und politischen Grundlagen dieser Entartungen des Sozialismus zu analysieren und daraus die erforderlichen Konsequenzen zu ziehen.
Da der Text der Rede Chruschtschows nicht veröffentlicht wurde, gab das ZK der KPdSU einen Beschluss »Über den Personenkult und seine Folgen« heraus, in dem – ohne Einzelheiten anzuführen – im Prinzip die Grundauffassung des Referates wiederholt und die gesamte Verantwortung auf Stalin abgeschoben wurde. Das ZK der SED bezog danach ebenfalls Stellung, indem es die Position der KPdSU übernahm und außerdem erklärte, dass eine Fehlerdiskussion unangebracht sei, weil »Fehler im Vorwärtsschreiten« überwunden werden müssten.
Da in der Partei eine beträchtliche Unruhe entstanden war, nahm Walter Ulbricht in einer Rede zu einigen Fragen Stellung, verschärfte aber damit die Situation noch mehr. Denn er versuchte ebenfalls, die Tragweite der Probleme herunterzuspielen und beging die Ungeschicklichkeit, die »jungen Genossen, die Stalin für einen Klassiker des Marxismus-Leninismus gehalten hatten«, zu belehren, dass sie sich damit geirrt hätten und ihre Auffassung ändern müssten.
Ich kann nicht verhehlen, dass mich diese kaltschnäuzige Art empörte und ich die Frage stellte, wer denn den jungen Genossen beigebracht habe, dass Stalin ein »Klassiker« sei? Sich auf eine derartige Weise aus der Affäre zu ziehen, hielt nicht nur ich für unmöglich, und es gab deshalb ziemlich starke Proteste.
Diese zeitigten ihre Wirkung, denn Walter Ulbricht schrieb diese Passage seiner Rede, die so im Neuen Deutschland gestanden hatte, für eine Buchveröffentlichung um und korrigierte sich damit. Ich glaubte nicht, dass einem so erfahrenen Politiker ein derartiger Fauxpas einfach nachgesehen werden könne, aber später habe ich verstanden, dass dieser sehr wahrscheinlich einer großen Verunsicherung und auch einer gewissen Ratlosigkeit entsprang, wie mit der prekären Situation umzugehen sei. Denn es war ja nicht nur eine interne Angelegenheit der kommunistischen und sozialistischen Parteien, sondern hatte auch enorme internationale Auswirkungen.
Für alle Gegner des Sozialismus waren die Enthüllungen Chruschtschows ein gefundenes Fressen, eine willkommene Gelegenheit, den ideologischen und psychologischen Kampf gegen den Sozialismus mit aller Kraft zu verstärken und die unvermeidlich entstehende Instabilität in einigen sozialistischen Ländern zu nutzen, um nach Möglichkeit konterrevolutionäre Bestrebungen zu unterstützen und zu organisieren.
Außerordentlich schwierige Situationen entstanden im Sommer und Herbst 1956 in Polen und Ungarn, deren Beurteilung nicht einfach war.
Die polnische Partei befand sich aus mehreren Gründen in einer äußerst misslichen Lage, denn sie hatte unter dem Stalinschen Terror sehr stark zu leiden gehabt. Die gesamte Führung der Kommunistischen
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