Walter Ulbricht (German Edition)
ernsthaft bedroht wurde.
Diese drei gehörten einst zu den engsten Mitarbeitern Stalins und waren in erheblichem Maße auch an seinen gesetzwidrigen und verbrecherischen Aktionen beteiligt. Da sie die Aufdeckung ihrer Mitschuld befürchteten, hatten sie mit ihrer Mehrheit im Politbüro bereits beschlossen, Chruschtschow wieder abzulösen. Doch das von diesem eilig zusammengerufene Zentralkomitee verhinderte diese Absicht, und nun wurde diese Gruppe ihrerseits als eine »parteifeindliche Fraktion« ausgeschlossen.
Aber Chruschtschow stieß mit seiner Politik der vorsichtigen Entstalinisierung in Funktionärskreisen trotzdem auf großen Widerstand, denn die Freilassung vieler unschuldig Verurteilter, die Rehabilitierung ausgeschlossener und verurteilter Partei- und Staatsfunktionäre, die Auflösung von Straflagern und andere Maßnahmen führten mehr und mehr zu öffentlichen Diskussionen auch in der Bevölkerung. Daher sah er sich zu einem größeren Befreiungsschlag genötigt, um den Widerstand der orthodox stalinistischen Kräfte in der Partei, im Staat und in der Gesellschaft zu brechen. Das erfolgte in der »Geheimrede«, die von ihm in einer geschlossenen Sitzung des XX. Parteitages gehalten wurde.
Darin deckte er für alle völlig überraschend in einer wenig durchdachten Weise die zahlreichen Willkürakte, Terrorkampagnen und verbrecherischen Handlungen Stalins und seiner Helfershelfer Jagoda, Jeshow und Berija auf. Er erklärte, dass diese nur möglich gewesen seien, weil Stalin sich im Laufe der Zeit eine absolute diktatorische Macht angeeignet hatte und alle wichtigen Entscheidungen selbstherrlich traf, wobei die gewählten Organe wie das Zentralkomitee und auch das Politbüro und seine Mitglieder zu lediglich ausführenden Organen degradiert wurden.
Chruschtschow bezeichnete diesen unerträglichen Zustand, der zu schwerwiegenden Folgen für die Partei, den Staat und die sozialistische Gesellschaft geführt hatte, als »Personenkult«, den er scharf als unmarxistisch verurteilte und für diese Entartungserscheinungen verantwortlich machte.
Die Delegierten des Parteitages und auch die Delegationen ausländischer Parteien, die an der Tagung teilnahmen, darunter auch eine Abordnung der SED mit Walter Ulbricht, waren von der Wucht und der Schärfe dieser Anklagen regelrecht erschüttert und mussten um Fassung ringen. Eine Diskussion fand nicht statt, und der volle Wortlaut der Rede Chruschtschows wurde nicht veröffentlicht.
In den Parteiorganisationen der SED wurde später darüber informiert, indem der Inhalt lediglich zusammenfassend referiert wurde. Im Institut für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED wurde der Lehrkörper durch die Direktorin Lene Berg informiert, allerdings berichtete sie über die Willkürakte und Verbrechen Stalins in einer sehr oberflächlichen und häufig entschuldigenden und beschönigenden Weise. Es war ihr anzumerken, wie betroffen und ratlos sie angesichts dieser brutalen Enthüllungen war. Eine Diskussion fand nicht statt, aber ich hatte danach ein Gespräch unter vier Augen mit ihr, in dem ich ihr Vorgehen kritisierte und ihr vorwarf, dass sie uns wie kleine Kinder behandele, denen man unangenehme und belastende Dinge vorenthalten müsse. Das sei nicht nur überflüssig, sondern auch schädlich, da wir die Wahrheit früher oder später ohnehin erfahren würden.
Diese Gelegenheit ergab sich nach einiger Zeit auch, denn in der westlichen Presse wurde die Rede Chruschtschows sehr bald veröffentlicht. Wahrscheinlich ist der Text aus Polen übermittelt worden und gelangte auf diesem Weg in die Medien. So konnte ich bald eine deutsche und auch eine englische Übersetzung der Rede lesen, und kam – entgegen der bei uns längere Zeit verbreiteten Version, dass es sich dabei um eine »imperialistische Fälschung« handele –, zu der Auffassung, dass der Text authentisch sei.
Die Rede Chruschtschows war in der Tat aufwühlend, wenn ich auch nicht mehr ganz unvorbereitet war, denn in verschiedenen sowjetischen Veröffentlichungen, die ich sehr aufmerksam verfolgte, kündigte sich die Entstalinisierung bereits an. So bemerkte ich schon in den Thesen »Fünfzig Jahre KPdSU« vom Herbst 1953 eine gewisse Distanzierung von Stalin und dem Personenkult um ihn.
Aber das Ausmaß der Verbrechen Stalins und seiner Helfer war wirklich erschreckend und warf sofort die Frage auf, ob das alles lediglich durch negative Charaktereigenschaften Stalins und den Kult um ihn erklärt werden
Weitere Kostenlose Bücher