Walter Ulbricht (German Edition)
Umgestaltungsprozesse zu verstehen, und noch weniger, sie bewusst zu planen und zu leiten. Dies umso mehr, als in den entwickelten kapitalistischen Ländern die wissenschaftlich-technische Revolution zu einem erneuten Aufschwung der Produktivkräfte und damit auch zu einer bedeutenden Erhöhung der Arbeitsproduktivität führte – ganz im Gegensatz zu Stalins Behauptungen in seiner letzten Arbeit »Ökonomische Probleme des Sozialismus«.
In der unmittelbaren täglichen Konfrontation mit der industriell hoch entwickelten kapitalistischen BRD wurde deutlich, welche Anstrengungen noch erforderlich waren, um auch den materiellen Lebensstandard auf ein Niveau zu heben, das den Ansprüchen des Sozialismus genügte und ihn als überzeugende Alternative zum Kapitalismus erscheinen ließ.
Es kam also darauf an, die ökonomische Leistungskraft der Gesellschaft in erheblichem Maße zu steigern, und das war nur möglich durch die Entfaltung des wissenschaftlich-technischen Fortschritts und die umfassende Nutzung seiner Resultate. Das schwerfällige bürokratische Planungs- und Leitungssystem der Wirtschaft, welches weitgehend aus der Sowjetunion übernommen worden war, erwies sich immer mehr als ungeeignet, den wissenschaftlich-technischen Fortschritt zu stimulieren. Alle realistischen Überlegungen führten zu dem Schluss, dass die im Verlauf der Übergangsperiode entstandene sozialistische Gesellschaft keineswegs fertig und vollendet sei, sondern noch einer längeren allseitigen Entwicklung und Vervollkommnung bedürfe, ehe sie den ökonomischen Reifegrad erreichte, der die unerlässliche Bedingung für den Übergang in die höhere Entwicklungsstufe des Kommunismus bildete.
Walter Ulbricht scheute sich nicht, diese Schlussfolgerung auf dem VI. Parteitag der SED 1963 klar und eindeutig zu formulieren, indem er erklärte, dass nun, nach der Vollendung der Übergangsperiode, der »umfassende Aufbau des Sozialismus« das strategische Ziel sei. Damit erteilte er allen kommunistischen Illusionen eine Absage.
Wenn diese neue Formel auch in theoretischer Hinsicht noch nicht genügend begründet und in praktischer Hinsicht noch nicht ausreichend mit konkretem Inhalt erfüllt war, bedeutete sie doch einen entscheidenden Fortschritt in der Auffassung des Sozialismus, der als Grundlage für die weitere Abkehr von der primitiv vereinfachten Stalinschen Konzeption und für die Ausarbeitung umfassender Reformpläne diente. Nun ging es darum, alle Konsequenzen aus diesem Ansatz zu ziehen, um die konkreten Wege der weiteren Gestaltung der sozialistischen Gesellschaft zu bestimmen.
An diesem wichtigen Wendepunkt zeigte sich, dass Walter Ulbricht nicht nur ein Realpolitiker war, der von den jeweiligen Bedingungen ausgehend nach den nächsten praktischen Lösungen suchte, sondern auch ein theoretischer Kopf, der eine wissenschaftlich begründete Konzeption für eine langfristige Entwicklung der sozialistischen Gesellschaft suchte. Dazu wurde nicht nur die Theorie des Marxismus benötigt, sondern – vom Fundament ihrer Erkenntnisse über die Gesetzmäßigkeiten der gesellschaftlichen Entwicklung ausgehend – war es auch erforderlich, sich dabei auf eine Reihe von Naturwissenschaften, Gesellschaftswissenschaften und Technikwissenschaften zu stützen.
Von dieser Einsicht wurde sein positives und enges Verhältnis zu den Wissenschaften bestimmt. Die weitere Vervollkommnung der sozialistischen Gesellschaft konnte nur in enger Verbindung mit der wissenschaftlich-technischen Revolution erfolgen, weil nur so der erforderliche Entwicklungsstand der Produktivkräfte zu erreichen war.
Da die DDR kaum über nennenswerte Rohstoffe verfügte, musste ihre Produktion besonders stark auf »intelligenzintensive« und möglichst exportfähige Erzeugnisse orientiert werden, weshalb die Entwicklung und Förderung der modernen Technikwissenschaften von besonderer Bedeutung war. Es zeugte von Walter Ulbrichts Weitsicht, dass er die moderne Wissenschaft als eine entscheidende Produktivkraft der Gesellschaft erkannte und konsequent darauf hinwirkte, sie immer umfassender für den Sozialismus zu nutzen.
Durch die Bildung des Forschungsrates der DDR wurde ein Organ geschaffen, um die Entwicklung der wissenschaftlichen Forschung zu planen und zu koordinieren, und es wurden erhebliche Mittel für die weitere Entwicklung und Diversifizierung wissenschaftlicher Forschungs- und Ausbildungseinrichtungen bereitgestellt. Zahlreiche neue Hochschulen, besonders im
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