Walter Ulbricht (German Edition)
und die Schiedskommissionen in den Wohngebieten und Produktionsgenossenschaften gehörten zum Justizsystem. Darin unterschieden sie sich auch von vergleichbaren Institutionen in anderen sozialistischen Ländern. Sie erfüllten gerichtliche Aufgaben in vollem Umfang. Ihre Entscheidungen (Beschlüsse) konnten durch Rechtsmittel angefochten werden. Wurden sie rechtskräftig, konnte aus ihnen vollstreckt werden.
Der demokratische Charakter der Rechtspflege der DDR zeigte sich auch in anderen Bestimmungen der Verfassung. Der Abschnitt »Sozialistische Rechtspflege und Gesetzlichkeit« (Art. 86) beginnt mit der fundamentalen Aussage: »Die sozialistische Gesellschaft, die politische Macht des werktätigen Volkes, ihre Staats- und Rechtsordnung sind die grundlegende Garantie für die Einhaltung und Verwirklichung der Verfassung im Geiste der Gerechtigkeit, Gleichheit, Brüderlichkeit und Menschlichkeit.«
Es folgt mit Art. 87 eine Bestimmung, die den demokratischen Charakter der Rechtspflege in einem wahrhaft demokratischen Staatswesen charakterisiert: »Gesellschaft und Staat gewährleisten die Gesetzlichkeit durch die Einbeziehung der Bürger und ihrer Gemeinschaften in die Rechtspflege und in die gesellschaftliche und staatliche Kontrolle über die Einhaltung des sozialistischen Rechts.«
Gesetze zu erlassen ist das Eine (in dieser Hinsicht, heißt es, sei der Bundestag Weltmeister). Viele Gesetze müssen oft wegen Mangelhaftigkeit novelliert, korrigiert oder durch neue ersetzt werden. Darunter leidet zwangsläufig auch die Rechtssicherheit.
Das andere ist es, für die Einhaltung der Gesetze zu sorgen und sie auch konsequent durchzusetzen.
Der genannte Art. 87 der DDR-Verfassung macht deutlich, wie das in einem tatsächlich demokratischen Staatswesen geschehen soll und kann: Die Einhaltung der von der höchsten Volksvertretung im Interesse der Bürger erlassenen Gesetze muss zu einer Angelegenheit der Bürger selbst werden.
Wenn sie ihre Gesetze selbständig einhalten und für die Einhaltung durch andere eigenständig sorgen, dann wird die Einhaltung der Gesetze, mithin die Rechtssicherheit, zu einer Selbstverständlichkeit. Die DDR-Wirklichkeit bewies in hohem Maße, dass das funktioniert, weshalb der Einwand, die Bürger verhalten sich nur dann und dort gesetzeskonform, wo im Falle der Zuwiderhandlung Sanktionen drohen, billig ist: In einer bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft mag er zutreffen, in einer demokratisch-sozialistischen nicht.
Und diese Einhaltung der Gesetze und damit die Rechtssicherheit wären in DDR noch höher gewesen, wenn nicht vor der Tür im Westen ein Staatswesen mit prinzipieller Negierung von Recht und Gesetz existiert hätte.
Neben Schöffen und Gesellschaftlichen Gerichten wirkten auch Kollektivvertreter, gesellschaftliche Ankläger bzw. Verteidiger an den Verfahren vor Strafgerichten mit. Tausende DDR-Bürger trugen in Kommissionen zu Ordnung und Sicherheit bei, arbeiteten in Jugendhilfekommissionen, in Arbeitsschutzkommissionen, im Rahmen der Arbeiter- und Bauern-Inspektionen (ABI), als Helfer der Volkspolizei … In vielfältiger Weise sorgten sie für die Einhaltung der Gesetze durch jedermann. Das bewirkte nicht nur ein hohes Rechts-, sondern auch Verantwortungsbewusstsein in Arbeitskollektiven und Hausgemeinschaften.
Die Staatsanwälte der DDR besaßen umfassende Vollmacht gegenüber jedermann, auch und nicht zuletzt gegenüber Mitarbeitern der Staatsorgane, bei der Kontrolle der Gesetzlichkeit. Es existierte in der DDR – in der BRD gibt es so etwas nicht – ein Gesetz über die Staatsanwaltschaft, in dessen Kapitel V (»Aufgaben, Rechte und Pflichten bei der Allgemeinen Gesetzlichkeitsaufsicht«) deren Befugnisse geregelt waren. Das Gesetz korrespondierte mit Art. 97 und 98 der DDR-Verfassung. Die Staatsanwaltschaft sorge für die »Sicherung der sozialistischen Gesellschafts- und Staatsordnung und der Rechte der Bürger«, hieß es dort, sie wache »über die strikte Einhaltung der sozialistischen Gesetzlichkeit«.
Auch diese Bestimmung zeugte von einem sozialistischen Rechtsstaat. Wo gab und gibt es Vergleichbares im GG oder in der Rechtsordnung der BRD?
Juristisch spielt die Staatsanwaltschaft – als ein ursprünglich bei den Gerichten angesiedeltes Hilfsorgan der Gerichte – in der Bundesrepublik eine untergeordnete Rolle. Sie hat nur in Strafsachen die Funktion der Initiierung eines Prozesses und die Aufgabe, Anklagen vor Gericht zu vertreten und/oder – was
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