Walter Ulbricht (German Edition)
kann eine Rechtsordnung ihren Bürgern an Rechtssicherheit bieten, wenn die Gesetze ganz verschieden ausgelegt werden? Nicht grundlos hob Gustav Radbruch 11 gerade die Einheitlichkeit der Rechtsprechung als ein hohes Gut der Rechtspflege hervor.
Dass das Oberste Gericht mit seinen von der Volkskammer gewählten Richtern »kein Gott über allem« war und auch nicht sein durfte, wurde in Abs. 3 dieses Art. 93 der DDR-Verfassung bewusst gemacht. Das Oberste Gericht war der Volkskammer und zwischen ihren Tagungen dem Staatsrat rechenschaftspflichtig. Diese rechtspolitische Verantwortlichkeit des Obersten Gerichts gegenüber der Volkskammer bzw. dem Staatsrat stellte keinen Eingriff in die durch Art. 96 gewährleistete richterliche Unabhängigkeit dar.
Art. 94 Abs. 1 der DDR-Verfassung umschrieb, wer in der DDR Richter werden/sein, wer zum Richter gewählt werden konnte: Er musste »dem Volk und seinem sozialistischen Staat treu ergeben« sein und »über ein hohes Maß an Wissen und Lebenserfahrung, an menschlicher Reife und Charakterfestigkeit« verfügen. Diese Bestimmung knüpft an Art. 128 der Verfassung von 1949 an. Bei meinen Begegnungen mit Juristen anderer Länder gewann ich nie den Eindruck, dass diese sich als Gegner ihres Staats verstanden. Auch in anderen Ländern waren (und sind) Richter nicht nur loyal, sondern staatstragend.
Ergänzt wurde der Artikel durch eine ebenfalls an den Text der DDR-Verfassung von 1949 anknüpfende Bestimmung, dass »die demokratische Wahl aller Richter, Schöffen und Mitglieder der gesellschaftlichen Gerichte gewährleistet, dass die Rechtsprechung von Frauen und Männern aller Klassen und Schichten des Volkes ausgeübt wird«. In diesem Sinne folgte in Art. 95 die Regelung der demokratischen Wahl »aller Richter, Schöffen und Mitglieder der gesellschaftlichen Gerichte durch die Volksvertretungen oder unmittelbar durch die Bürger«. Sie hatten ihren Wählern Bericht über ihre Arbeit zu erstatten.
Diese Berichterstattung war sachbezogen auf die Gegenstände der Rechtsprechung – also Rechtsfragen, Rechtsstreitigkeiten und Rechtsverletzungen – ausgerichtet. Die gemäß Art. 96 in ihrer Rechtsprechung unabhängigen Richter, Schöffen und Mitglieder gesellschaftlicher Gerichte hatten selbstverständlich keine Rechenschaftspflicht für ihre rechtsanwendende Tätigkeit, d. h. für die von ihnen (gemeinsam mit den Schöffen) erlassenen Urteile. Deren gegebenenfalls angezeigte Überprüfung erfolgte lediglich in den üblichen gerichtlichen Überprüfungsformen, so in Rechtsmittel- und Kassationsverfahren.
Der Zweck dieser Berichterstattung gemäß Art. 95 bestand darin, den Bürgern nahezubringen, wie die Rechtspflege agierte und welche Ergebnisse dabei zustandekamen. Zugleich diente sie auch der Vorbeugung und Verhütung von Rechtsverletzungen gemäß Art. 90 der Verfassung und der Stärkung eines demokratischen Rechtsbewusstseins.
An die unmittelbaren Bestimmungen der Rechte der Bürger in Art. 99-102 schlossen sich Grundsatzbestimmungen zum Eingabenrecht an (Art. 103 bis 105). Diese wurden durch Gesetze untermauert und spezifiziert. Da das Eingabenrecht nicht zur Rechtspflege gehörte, soll darauf hier nicht näher eingegangen werden. Ich will jedoch daran erinnern, dass die Eingaben der Bürger in der DDR zu den wichtigsten Formen der öffentlichen Äußerung in persönlichen und gesellschaftlichen Anliegen gehörten. Sie vermittelten den politischen Gremien wichtige Informationen über Sorgen und Probleme der Bürger, lieferten ein Bild von der Realität im Lande, benannten Fälle, in denen Verfassungsanspruch und Verfassungswirklichkeit auseinandergingen. Diese Hinweise eröffneten Möglichkeiten, das nicht nur zu registrieren, sondern darauf auch zu reagieren.
Im Vergleich dazu gewährt Art. 17 GG jedermann »das Recht, sich einzeln oder in Gemeinschaft mit anderen schriftlich mit Bitten oder Beschwerden an die zuständigen Stellen oder die Volksvertretung zu wenden«. Die »Petitionen« genannten Eingaben – allein schon deren Bezeichnung klingt mehr nach Monarchie denn nach Demokratie – müssen an den Petitionsausschuss des Bundestages gerichtet werden, dem die Bearbeitung »der Bitten und Beschwerden obliegt« (Art. 45 c GG). Dabei wird in der Regel nicht der Gegenstand untersucht und Abhilfe angeboten, sondern überprüft, ob die darin involvierten Verfassungsorgane gesetzeskonform gehandelt haben.
In der DDR kam der Souverän, das Volk, unmittelbar zu Worte,
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