Walter Ulbricht (German Edition)
seit den 70er Jahren üblich ist – einen Deal zwischen Beklagten, Kläger und Richter auszuhandeln. Ein Staatsanwaltschaftsgesetz kennt die Rechtsordnung der BRD bis heute nicht.
In der DDR war der Staatsanwalt Hüter der Gesetzlichkeit. Dafür wurden ihm – gemäß Art. 97 der Verfassung – Gesetze und Rechtsvorschriften in die Hand gegeben. Art. 97 bestimmte ausdrücklich: Die Staatsanwaltschaft schützt die Bürger vor Rechtsverletzungen. Die Rechtsordnung der BRD kennt solches nicht, in ihr ist die Staatsanwaltschaft eine weitgehend vollmachtlose Institution.
In der DDR wandten sich Bürger in Belegschaftsversammlungen, Justizaussprachen und Sprechstunden an Staatsanwälte, die ihnen weitgehend bekannt waren. Sie informierten und reagierten auf eindeutige Verletzungen der Rechte von Bürgern. Sie standen diesen zur Seite. Oft regelte ein Anruf bei der Instanz, über die sich Bürger beschwert hatten, die Angelegenheit ohne großes Gewese.
Art. 89 bekräftigt nicht nur die Selbstverständlichkeit, dass Gesetze und andere Rechtsvorschriften nicht der Verfassung widersprechen dürften. Für den Fall, dass Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit von Rechtsvorschriften des Ministerrates oder anderer staatlicher Organe bestünden, sollte der Staatsrat entscheiden. In der Verfassungsfassung vom 7. Oktober 1974 hieß es dazu weitergehend: »Über Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit von Rechtsvorschriften entscheidet die Volkskammer.«10 Diese Regelung entsprach dem Wesen der Volkssouveränität. Das Parlament als Legislative war das oberste staatliche Machtorgan.
Die Regelung im GG der BRD, nach der ein vom Parlament abhängiges Organ – das Verfassungsgericht – das letzte Wort über die Vereinbarkeit von Gesetzen mit der »Verfassung«, also dem GG, hat, ist insofern undemokratisch, als sie das Parlament entmachtet. In der Praxis des BVerfG wird häufig der Weg beschritten, dem Gesetzgeber aufzugeben, innerhalb einer Frist ein (neues) GG-konformes Gesetz zu verabschieden.
Der Grundgedanke, dass die Einhaltung der Gesetze zu einer Sache des ganzen Volkes werden muss, wenn im Lande Rechtssicherheit herrschen und eine entsprechende Rechtspflege geübt werden soll, fand in Art. 90 der DDR-Verfassung seinen Niederschlag. »Die Rechtspflege dient der Durchführung der sozialistischen Gesetzlichkeit, dem Schutz und der Entwicklung der Deutschen Demokratischen Republik und ihrer Staats- und Gesellschaftsordnung. Sie schützt die Freiheit, das friedliche Leben, die Rechte und die Würde der Menschen.«
Von besonderer Bedeutung war Abs. 2 dieses Artikels, es war das Konzentrat der Konsequenzen aus unseren wissenschaftlichen Erkenntnissen über Wesen und Ursachen der Kriminalität. Er lautete: »Die Bekämpfung und Verhütung von Straftaten und anderen Rechtsverletzungen sind gemeinsames Anliegen der sozialistischen Gesellschaft, ihres Staates und aller Bürger.«
Wissenschaftliche kriminologische Erkenntnisse wie auch die Alltagserfahrung der Menschen besagten, dass Straftaten in der Regel – und so namentlich im DDR-Alltag – nicht urplötzlich auftraten. Oft gingen ihnen soziale und persönliche, familiäre Probleme voraus. Wenn die Mitmenschen solche beobachteten und in angemessener Weise darauf reagierten, konnte man etwa Gesetzesverletzungen (Gewalt, Übergriffe , Diebstahl aus sozialer Not o. ä.) vorzeitig begegnen. Eben deshalb war es für die Verhältnisse in der DDR so wichtig und so sinnvoll, dass die Verhütung von Rechtsverletzungen als gesamtgesellschaftliche Angelegenheit verstanden wurde. Die Folgen solcher Bemühungen sind dokumentiert. Seit 1952 ging die Zahl der festgestellten Straftaten in der DDR zurück, während sie in der BRD zunahm. Die Kriminalität der BRD war, umgerechnet auf die Bevölkerung, etwa zehn Mal so hoch wie in der DDR.
Bei der Vorbeugung und Verhütung von Rechtsverletzungen spielte die Teilnahme der Bürger an der Rechtspflege eine entscheidende Rolle, die in Art. 90 Abs. 3 ausdrücklich formuliert war.
Art. 93 bestimmte die Aufgaben des Obersten Gerichts im Einzelnen, so dass es die Rechtsprechung der Gerichte auf der Grundlage der Verfassung, der Gesetze und anderer Rechtsvorschriften in rechtsstaatlichen Formen leitete und die einheitliche Rechtsanwendung sicherte. Als Jurist kann ich die Bedeutung dieser Verfassungsbestimmung – angesichts der beträchtlichen, allgemein beklagten Uneinheitlichkeit der Rechtsprechung der BRD – nicht hoch genug würdigen. Denn was
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