Walter Ulbricht (German Edition)
Ich sagte, dass die übergroße Mehrheit der Deutschen der faschistischen Ideologie verfallen sei. Soldaten, Unteroffiziere und Offiziere folgten bedingungslos ihrem Führer, es sei illusorisch zu glauben, dass sich da in absehbarer Zeit etwas ändere. Die meisten Soldaten hielten den Krieg gegen die Sowjetunion sogar für gerechtfertigt. Daraufhin erkundigten sie sich, warum ich dann übergelaufen sei. Weil mir meine Mutter, so sagte ich, vom Kommunismus überzeugt wie mein Vater, mit auf dem Weg gegeben hatte: Jeder Mensch macht Fehler. Aber einen Fehler mache bitte nie: Lass dich nicht in einen imperialistischen Aggressionskrieg gegen die Sowjetunion schicken. Dass ich diesen Rat beherzigte, führte dazu, dass sie von den Nazis ins KZ gesteckt wurde. Erst später erfuhr ich, dass sie von 1941 bis 1945 in Ravensbrück leiden musste.
Wie verlief dein erstes Gespräch mit Ulbricht?
Er fragte mich, was mir für die nächste Zeit so vorschwebe. Ich antwortete ohne zu zögern, dass ich mithelfen wolle, den Krieg zu beenden, auf welche Weise, auf welchem Platz auch immer, wenn möglich auch direkt an der Front. Ulbricht lächelte in seiner bekannten Art, meinte, das sei sehr zu begrüßen, aber gegenwärtig unmöglich. Die militärische und politische Lage sei zu schwierig und zu unübersichtlich. Ich wusste, dass der deutsche Vorstoß an allen Frontabschnitten ungebrochen weiterging, dass starke deutsche Truppenverbände im Marsch auf Moskau waren und bald vor der Hauptstadt stehen würden. Also sollte ich warten, man würde mich sicher rechtzeitig über meine Aufgaben unterrichten. So gingen wir auseinander.
Wenige Wochen später, im September, wurden Franz Gold 2 , ein böhmischer Kommunist, der erst vor wenigen Tagen übergelaufen war, und ich zur Lagerleitung gerufen. Dort erwarteten uns diese drei erneut. Diesmal aber führte Walter Ulbricht das Wort. Die militärische und wirtschaftliche Situation in und um Moskau sei inzwischen nicht einfacher, sondern eher noch komplizierter geworden, sagte er. Die entscheidende Schlacht zur Verteidigung der Hauptstadt und damit der Sowjetunion stehe bevor. Es sei notwendig, die inzwischen hier in Frontnähe zusammengeführten Kriegsgefangenen ins tiefe Hinterland zu transportieren. Er fragte mich und Franz Gold, ob wir bereit seien, beim Aufbau eines solchen Lagers an einem neuen Standort – wo immer der auch sein würde – mitzuhelfen. Dort sollten wir nicht nur die sowjetische Lagerleitung unterstützen, sondern auch antifaschistische Überzeugungsarbeit unter den Kriegsgefangenen leisten. Unsere Erfahrungen wollte man danach auf andere Lager übertragen. Das sei, so erklärte uns Ulbricht, nicht nur notwendig, um die Disziplin aufrechtzuerhalten und das Leben im Lager einigermaßen erträglich zu gestalten. Es gehe auch darum, dass die Kriegsgefangenen begriffen, dass sie einer verbrecherischen Propaganda und Politik zum Opfer gefallen waren und daraus für das eigene Leben Schlüsse ziehen sollten. Für sie war der Krieg zu Ende, sie hatten überlebt – und müssten diesem Leben einen neuen Sinn geben. Und sei es nur den, dass sie den Schaden wiedergutmachten, den sie in der Sowjetunion angerichtet hatten, indem sie ordentlich arbeiteten: im Wald, in Bergwerken, in Produktionsbetrieben.
Ulbricht argumentierte schlüssig und überzeugend, und ich fand ihn von Anfang an auch deshalb sympathisch, weil er Sachse war wie ich: Er kam aus Leipzig, ich aus Chemnitz.
Gold und ich waren dazu prinzipiell bereit, auch wenn wir viel lieber aktiv an der Front gekämpft hätten.
Wie ging es dann weiter?
Die Verlegung des Lagers Nr. 27 begann bereits wenige Tage später. Wir wurden – wie Tausende andere Gefangene auch – in Waggons gesperrt, die für die große Zahl der Menschen viel zu klein waren. Die Luft war binnen kurzem stickig, es war dunkel, und nur durch einige wenige Ritzen drang Licht von außen herein. Die Fahrt war physisch wie auch psychisch furchtbar, was ich aber verstand. Hunderttausende, wenn nicht gar Millionen sowjetischer Menschen wurden zur selben Zeit nach dem Osten evakuiert, aus der künftigen Kampfzone gebracht, zehntausende Industriebetriebe wurden demontiert, verlegt und im sicheren Sibirien und in Mittelasien neu aufgebaut. Eine wahnsinnige logistische Leistung. Da waren die Kriegsgefangenen quasi Ballast und unnütze Esser. Und dennoch sorgte man sich um uns und für uns. Es war nicht so wie auf der deutschen Seite, wo – wie wir heute wissen –
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