Walter Ulbricht (German Edition)
Marthastraße im Osten Leipzigs kannte. Kleine, meist eingeschossige Häuser, viele mit Fachwerk, reihten sich aneinander, eben das ehemalige Naundorf, das vormals westlich außerhalb der Leipziger Stadtmauern lag. Es war eine Arme-Leute-Gegend.
So beschrieb es auch Luise Flavin, die Tochter von Walter und Erich Ulbrichts Schwester Hildegard: »Opas Wohnhaus, in dem er mit seiner zweiten Frau lebte, befand sich hinter einem massiven Tor am Ende der Straße. Das verhältnismäßig abgeschlossene Areal wurde auch von den Hausgärten der Wohngebäude in den Nebenstraßen begrenzt. Und ich entsinne mich der riesigen alten Bäume, die dort standen.« 1 Hildegard Ulbricht hatte offensichtlich noch vor Bruder Erich Leipzig verlassen. Sie heiratete einen engagierten Gewerkschafter und brachte 1932 ihre Tochter Luise in Königs Wusterhausen bei Berlin zur Welt. Als Kind weilte Luise, wie sie später Lotte Ulbricht berichtete, oft bei den Großeltern in Leipzig. Für sie war das »Naundörfchen« wie ein Zuhause.
Weder sie (noch ich) haben damals bemerkt, dass dieser Ort ein sogenanntes Dirnenviertel und eine verrufene Gegend gewesen sein soll.
Wenige Monate nach meinem Besuch im »Naundörfchen« im Frühjahr 1933 lernte ich Erich Ulbricht selbst kennen. Mit seiner Frau Erna und Tochter Ellinor, etwa so alt wie ich, besuchte er meine Eltern in Leipzig-Schönefeld. Für mich als Fünfjährige war das ein außergewöhnliches Ereignis, kamen sie doch aus dem fernen und für mich wunderbaren Amerika, wovon mir meine Großmutter nach ihrer ersten Reise viel erzählt hatte. Aus den Gesprächen der Erwachsenen ist mir in Erinnerung, dass Erich Ulbricht länger als geplant in Leipzig bleiben musste, weil er seinen Pass verloren hatte. Davon sprach mein Vater später wiederholt und mutmaßte, dass dieser Verlust zu diesem Zeitpunkt nicht zufällig gewesen sein könnte. Die Nazis waren an der Macht, und Erichs Bruder – Walter Ulbricht – wurde bereits steckbrieflich gesucht.
Vater Ernst Ulbricht war, quasi in Mithaftung genommen, als Schneider entlassen worden. Wohl auf Veranlassung von Erich ließ sich deshalb mein Vater, damals Arbeiter im Telegrafenbauamt Leipzig, im Sommer 1933 erst- und letztmalig in seinem Leben eine Hose daheim anmessen und nähen. Ich erinnere mich an den Schneidermeister Ernst Ulbricht als einen mittelgroßen schmalen, etwas gebeugten, sehr stillen Mann.
Auch Arthur Thiemig und andere mit meinem Vater bekannte ehemalige Mitglieder des Kommunistischen Jugendverbandes in Leipzig kamen aus Solidarität mit dem arbeitslosen Ernst Ulbricht zu neuen, maßgeschneiderten Hosen.
In den Vorkriegsjahren erwähnte mein Onkel Herbert Eichhorn in seinen Briefen Erich Ulbricht nur selten, ungeachtet ihrer engen Verbundenheit. Es wird wohl aus Sicherheitsgründen unterblieben sein.
Nach dem Weltkrieg, aus dem mein Vater nicht zurückkehrte, wurde diese Verbindung in die USA für meine Mutter und mich sehr spürbar. Seit 1946 erhielten wir von meinem Onkel regelmäßig sogenannte Care-Pakete aus den USA. Diese waren zollfrei. Nach Gründung der DDR 1949 wurden dafür Zollgebühren erhoben. Wir mussten mit dem schmalen Verdienst meiner Mutter als Reinigungskraft und meinen 150 Mark Stipendium auskommen. Als wir Herbert Eichhorn das mitteilten, kam er auf einen Trick: Er schickte fortan seine Hilfslieferungen an eine Hildegard Niendorf in Bad Seegeberg. Das lag in Schleswig-Holstein und in der Bundesrepublik. Sie musste keinen Zoll entrichten, und der Postverkehr zwischen der BRD und der DDR war ebenfalls zollfrei. Nunmehr bekamen wir und auch andere Verwandte und Bekannte von Onkel Herbert in der DDR die uns zugedachten Sendungen auf diesem Wege.
Obwohl ich mich stets bedankte, erhielt ich nie eine Antwort, was mich verwunderte. Fast fünfzig Jahre später erst erfuhr ich, dass diese Hildegard Niendorf in Bad Seegeberg die Schwester von Erich und Walter Ulbricht war. Sie wird wohl ihre Gründe gehabt haben, sich uns gegenüber ein wenig konspirativ verhalten zu haben. Später übernahm Genex 2 diese Aufgabe. Onkel Herbert schickte zu Weihnachten und an Geburtstagen Dollar, und wir erhielten dafür Geschenke aus Karl-Marx-Stadt.
Onkel Herbert Eichhorn starb, jenseits der 80, im Jahre 1987 in den USA. Wir sahen uns zum letzten Mal 1966 in Berlin, als er uns mit seiner Frau in Berlin besuchte. Die Verbindung riss ab, als ich – wie alle Mitarbeiter der Humboldt-Universität, an der ich damals den Lehrstuhl
Weitere Kostenlose Bücher