Walter Ulbricht (German Edition)
einmal »vor Ort« zu sein. Ohne Pause oder überflüssige Rituale ging es zur Sache. Mich verblüffte, wie er sich unterhielt und zuhörte. Es schien nur so, als folgte er den Auskünften der Leiter aus Höflichkeit, doch seine Fragen zeigten, dass er alles sehr genau im Kopf verarbeitete. »Halten die technischen Kennziffern der neuen Anlagen dem Vergleich zu den Daten der modernsten Betriebe in der Welt stand?« Das konnte pariert werden. Dann haperte es schon. »Wie ist es mit der Kennziffer Arbeitsproduktivität?« Die darauf folgende Diskussion war spannend, ein Streit um die besten Lösungen.
Beim anschließenden Rundgang auf der Baustelle gab es eine interessante Begegnung mit Bauleiter Frank Schliephake. Der 24-jährige Diplomingenieur stellte Walter Ulbricht die Takt -und Fließfertigung auf der Grundlage einheitlicher Arbeitsablaufpläne für die Bau- und Montagearbeiten, also das Zyclogramm, vor und artikulierte auch Zweifel und Widerstände. Das gefiel Ulbricht sichtlich. Den anschließenden Meinungsaustausch beendete Ulbricht mit der Bemerkung: »Die Stunde der jungen Facharbeiter und Ingenieure sei gekommen, haben wir auf dem Parteitag gesagt. Hier ist die Bestätigung.«
Schliephake, der unserer FDJ-Kreisleitung angehörte, sollte im Oktober 1963 in die Volkskammer gewählt werden.
An den nächsten Stationen erkundigte sich Ulricht: »Kennen Sie das Zyclogramm, und was meinen die Kollegen dazu?« Eine Brigadier der Zimmerleute, Typ Balla aus Erik Neutschs noch ungeschriebenem Buch »Spur der Steine«, sagte ununwunden: Der Materialfluss stocke zuweilen. Das hörten die umstehenden Oberen nicht so gern, und sie wollen die Sache ein wenig glätten. Ulbricht winkte an. Man solle solche Hinweise ernst nehmen und Vorschläge »mit größter Sorgfalt« beachten. Jeder Werktätige müsse in der täglichen Praxis das Gefühl haben, dass von seiner Mitwirkung, von seinem Einsatz die Lösung der großen Aufgabe abhinge.
Und Ulbricht zeigte, dass es dabei um ganz einfache, aber wesentliche Fragen ging. »Wie sind die Unterkünfte? Wie ist die Versorgung der Bauarbeiter? Wie läuft das im Schichtbetrieb?«
Die Zimmerleute sagten: Arbeit, Essen und Unterkunft sind in Ordnung, auch der Verdienst sei gut, das aber genügt nicht … Natürlich, der werktätige Mensch lebt nicht vom Brot allein. Ulbricht verstand sofort, was gemeint war. Wir ernteten einen tadelnden Blick. In der Folge fanden wir Regelungen, wie die zeitweiligen Kollegen an den bedeutenden Kultur- und Sozialangeboten des Betriebes partizipierten.
Bei der abschließenden Zusammenkunft bekräftigte Ulbricht den Grundsatz des höchsten ökonomischen Nutzens bei Planung und Leitung der Wirtschaftsprozesse. Die auf der Baustelle geführten Gesprächen hätten ihm gezeigt, dass die Übereinstimmung der materiellen Interessen der Werktätigen und ihrer Arbeitskollektive mit den Interessen der Gesellschaft immer mehr zur Triebkraft der ökonomischen Entwicklung werde. Mehr als einmal begann er einen Gedanken mit der Wendung »Das Neue besteht darin …«, womit er sich als klarer Analytiker auswies, der strukturiert dachte und genau zwischen Wesentlichem und Zweitrangigem zu unterscheiden vermochte. Er benannte Schwerpunkte und hielt sich mit der Abgabe von Urteilen zurück. Er kritisierte nicht, er empfahl, er wies nicht an, sondern schlug vor. Das gefiel mir. In einer Sache jedoch blieb er hartnäckig: Für ihn war der umfassende Aufbau des Sozialismus nicht Aufgabe der Partei, sondern eine Sache aller Werktätigen.
Am 30. Juni, zum 70. Geburtstag Walter Ulbrichts, meldete Frank Schliephake Planerfüllung, das Werk erreichte 99,6 Prozent des Produktionsplanes bei sieben Prozent Steigerung der Arbeitsproduktivität.
Wirtschaftsreform
Harry Nick
Versuch einer durchgreifenden Wirtschaftsreform in der DDR
Harry Nick, Jahrgang 1932, geboren und aufgewachsen in Schlesien, 1945 Übersiedlung ins Mansfeldische, nach dem Abitur Arbeit als Stangenzieher im Walzwerk Hettstedt, Ökonomie-Studium in Berlin-Karlshorst von 1951 bis 1954, danach Tätigkeit an dieser Hochschule, 1959 Promotion, 1965 Habilitation. Mitarbeiter am Institut für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED seit 1962, ab 1964 Dozent, 1967 Professor. Leiter des Forschungsbereichs »Ökonomische und soziale Probleme des wissenschaftlich-technischen Fortschritts« am dortigen Institut für Politische Ökonomie bis 1990. Nationalpreis 1979.
Z ehn Jahre nach Ulbrichts Tod, 1983, verfasste
Weitere Kostenlose Bücher