Walter Ulbricht (German Edition)
berufen, es stand unter Leitung Günter Mittags, der zusammen mit Erich Apel das Neue Ökonomische System der Planung und Leitung konzipiert hatte und seit 1966 dem Politbüro angehörte. Wie nicht anders zu erwarten, steuerte Ulbricht das Vorwort bei.
Ulbricht setzte hohe Erwartungen in den wissenschaftlich-technischen Fortschritt. Er war davon überzeugt, dass Sozialismus und wissenschaftlich-technische Revolution quasi Verbündete seien, die die Entfaltung ihrer Potenziale wechselseitig befördern und die Überlegenheit des Sozialismus demonstrieren würden. Besondere Aufmerksamkeit schenkte er den sich entwickelnden komplexen Systemen flexibler Automatisierung. Sie ermöglichten die Komplettbearbeitung komplizierter Werkstücke bei einer Aufspannung unter Einsatz verschiedener Fertigungsverfahren (Drehen, Fräsen, Bohren u. a.). Das erlaubte die Automatisierung auch in den Bereichen der Mittel-, Klein- und selbst der Einzelfertigung. Bei der Entwicklung und dem Einsatz solch flexibler Automatisierungslösungen für die Materialbearbeitung war die DDR gut vorangekommen. Verständlich darum der Gedanke, dies auch international zu präsentieren. So entstand die Idee einer ständigen Industrieausstellung der DDR, analog der Internationalen Landwirtschaftsausstellung in Leipzig/Markkleeberg.
Für diese Exposition wurden auf einem weitläufigen Waldgelände in der Nähe der Berliner Bahnhöfe Wuhlheide und Köpenick Gebäude und Pavillons errichtet. In den ersten Ausstellungen sollten Grafiken und Tabellen mit ausführlichen Erläuterungen gezeigt werden.
Zwei Tage vor der geplanten Eröffnung entschied Walter Ulbricht, dass es keine Industrieausstellung geben werde, stattdessen eine »Akademie für Marxistisch-Leninistische Organisationswissenschaft« (AMLO), ein noch aufzuklärendes Konglomerat aus Kybernetik, Operationsforschung, Leitungswissenschaften und Ähnlichem. Die AMLO sollte so etwas wie das wissenschaftliche Zentrum der Modernisierung der DDR-Wirtschaft sein.
Die Einrichtung war wie wohl auch die »Systemautomatisierung« ein markantes Beispiel überzogener, wirklichkeitsfremder Vorstellungen der wirtschaftlichen Entwicklung in der DDR. Praktisch bedeutete sie eine Konzentration der Ressourcen auf Spitzentechnologien und eine Vernachlässigung der wirtschaftlichen Modernisierung in der Breite, so lautete auch eine der Begründungen für die Ablösung Walter Ulbrichts durch Erich Honecker 1970. Nach dieser Ablösung war weder von der AMLO noch von der DDR-Industrieausstellung mehr die Rede. In die dafür vorgesehenen Gebäude zogen das Ministerium für Wissenschaft und Technik, dessen Forschungsstelle und andere Dienststellen ein.
Das größte Verdienst Walter Ulbrichts war zweifellos der Versuch einer durchgreifenden Wirtschaftsreform, das »Neuen Ökonomischen Systems« (NÖS). Dort zeigten sich besonders deutlich seine Klugheit und Weitsicht sowie seine Vorgehensweise.
Im September 1962 war in der Prawda ein Artikel des sowjetischen Ökonomen Jewsei G. Liberman unter der Überschrift »Plan, Gewinn und Prämie« zu lesen. Darin geißelte der Autor die Orientierung der wirtschaftlichen Entwicklung auf das Mengenwachstum (»Tonnenideologie«) sowie die Vernachlässigung von Effizienz und Qualität. Die sowjetische Führung nahm von dieser Kritik keine Notiz. Die Wirtschaftsreformer in anderen sozialistischen Ländern taten es ihr gleich und debattierten weiter über Plan und Markt. Diese Debatten trafen nicht den Kern des Problems, das in einem überholten, ineffektiv gewordenen Wirtschaftsmechanismus bestand. Ulbricht erkannte dies.
In der Phase der Industrialisierung, als jeder neue Schornstein auf bislang grüner Wiese als sozialistischer Fortschritt gefeiert wurde und vom wirtschaftlichem Erstarken kündete, war quantitatives Wachstum, vorwiegend extensiv erreicht, durchaus wichtig. Die Entscheidungen über die Standorte für neue Betriebe und die mit ihnen verbundene Infrastruktur wurden aus gesamtwirtschaftlicher Sicht von der Zentrale getroffen. Als Finanzierungsquelle kamen nur staatliche Fonds infrage. Zentrale Wirtschaftslenkung, Planung und Kontrolle hat sich in der Industrialisierungsphase durchaus bewährt.
Nach Ende des Bürgerkrieges betrug die sowjetische Stahlproduktion nicht einmal ein Prozent der US-amerikanischen. Nach dem Ende des Weltkrieges, 1946, waren es 40 Prozent, 1970 schon 120 Prozent. Inzwischen war aber anderes entscheidend: Wie viel Gebrauchswert – zum Beispiel an
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