Walter Ulbricht (German Edition)
Menschen am besten zu erreichen seien. Diese Meinungsverschiedenheiten gab es auch zwischen führenden Leuten, deren Biografien mitunter sehr unterschiedliche Erfahrungen und daraus resultierende Schlussfolgerungen aufweisen. Fraktionstätigkeit kann ich darin nicht erkennen, im Übrigen wurde Fraktionstätigkeit in der SED laut Statut mit Ausschluss bestraft. Bei Kurswechseln in der Politik und neuen Herausforderungen kam die Jugendpolitik immer mit ins Spiel, und wir erlebten so manche Wende. Zum damaligen Zeitpunkt, das weiß ich, gab es nicht wenige Stimmen, die beispielsweise die Rolle der FDJ im Jugendkommuniqué als unterbelichtet bezeichneten, woraus später sogar eine Herabminderung der FDJ wurde. In der m. E. richtigen Auffassung, dass Jugendliche nicht nach Äußerlichkeiten – Kleidung, Mode, Tänzen oder Frisuren – zu beurteilen seien, witterten manche die Gefahr, dass dadurch der »westlichen Unkultur und Dekadenz« Tür und Tor geöffnet würden.
Das Thema Jugend und Musik blieb ein Dauerbrenner im Widerstreit. Von der »Beatwelle«, die in den 60er Jahren aus dem Äther über uns kam und bei Jugendlichen großen Anklang fand, hielt Ulbricht zunächst nichts; diese Musik (»die Monotonie des yeah, yeah, yeah«) war ihm suspekt. Dennoch meinte auch er, »der Takt, nach dem die Jugend tanzt, sei ihre Sache, die Hauptsache: sie bleibt taktvoll«. Allerdings kam die Losung »Die Jugend – Hausherr von Morgen« unter den Hammer, weil sie übertrieben sei und die Jugend überheblich mache, möglicherweise einen »Generationskonflikt« provoziere und »die führende Kraft der Arbeiterklasse und ihrer Partei« infrage stelle.
Ungeachtet dessen löste das Kommuniqué unter der Jugend einen Aufschwung aus wie lange nicht. Unzählige Treffen von Jugendlichen mit Werkleitern, Ministern, Künstlern und Wissenschaftlern bereicherten das geistige Leben. Neue und vielfältige Formen der Freizeitgestaltung, die den Bedürfnissen Jugendlicher entsprachen, fanden beachtlichen Zulauf. Das Deutschlandtreffen 1964 zeigte eine politisch engagierte, selbstbewusste Jugend, die auch in kultureller und sportlicher Hinsicht bewies, was sie draufhatte. Der Jugendsender DT 64 ging damals auf Sendung und entwickelte sich zum beliebten und meistgehörten Sender der DDR.
Diese Entwicklung hat meines Wissens das Politbüro einmütig sehr positiv bewertet. Spätere Auseinandersetzungen zur Jugendpolitik wie auf dem 11. Plenum des ZK Ende 1965 habe ich nach meinem Ausscheiden als 1. Sekretär der FDJ in Berlin Mitte 1965 nicht mehr unmittelbar erlebt.
Im Frühjahr 1966 entstand eine Kommission unter Leitung von Horst Sindermann und Kurt Hager, in die ich ebenfalls berufen wurde. Sie hatte einen Politbürobeschluss zu jugendpolitischen Fragen vorzubereiten. Er wandte sich wie eh und je in erster Linie an die Leitungen der Partei, des Staates und der Wirtschaft, der FDJ und weiterer gesellschaftlicher Organisationen. Ohne das Jugendkommuniqué kritisch zu erwähnen oder außer Kraft zu setzen, betonte der Beschluss die »klassenmäßige Erziehung der Jugend« und die Rolle der FDJ als »Helfer und Reserve der Partei«. Der Grundsatz »Der Jugend Vertrauen und Verantwortung« aber blieb unangetastet und galt unverändert. Er wurde sogar weitaus detaillierter und konkreter ausgeführt als in früheren Beschlüssen. Unter Vorsitz von Walter Ulbricht stimmte das Politbüro dem Beschluss ohne Widerspruch einstimmig zu.
1970 besuchte eine Delegation der Jungsozialisten in der SPD unter Leitung von Karsten D. Voigt, dem späteren Außenpolitischen Sprecher der SPD-Fraktion im Bundestag, die FDJ. Die Abordnung der Jusos wurde von Walter Ulbricht empfangen. Du warst dabei. Karsten Voigt, mit dem ich mich kürzlich über dieses Ereignis ausgetauscht habe, nahm an diesem Treffen teil, obwohl es aus dem Parteivorstand der SPD erhebliche Widerstände gab. Warum empfing Ulbricht die Delegation?
Meines Wissens war das die erste Delegation der Jungsozialisten, die in die DDR kam. Ein solcher Schritt war damals noch mutig. Beziehungen zur DDR wurden seit 1949 kriminalisiert. Lehrern und anderen Beamten drohte Berufsverbot, wenn sie in die DDR reisten. Walter Ulbricht hatte vom bevorstehenden Besuch in der Zeitung gelesen und mich daraufhin über die interne Telefonleitung des ZK angerufen. »Was meinst du«, fragte er, »wenn ich die Delegation empfinge?«
Einen Moment war ich sprachlos. Weder die FDJ noch die Abteilung Jugend im ZK hatten auch
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