Walter Ulbricht (German Edition)
ich die Schrift »Karl Marx und die Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft in der DDR«. 1 Sie erschien in sieben Sprachen und wurde den Teilnehmern der vom Zentralkomitee der SED anlässlich des 100. Todestages von Marx veranstalteten Internationalen Konferenz überreicht. An dieser Zusammenkunft nahmen führende Vertreter der kommunistischen und Arbeiterparteien teil. Natürlich nutzte die SED diese Gelegenheit, um ihr gesellschaftspolitisches Konzept vorzustellen. Dass meine Arbeit eine Art Diskussionsgrundlage dieser Konferenz sein würde, erwartete die Parteiführung jedoch nicht. Auf solchen Konferenzen hielt man Monologe, keine Dialoge oder gar Debatten ab. Den Teilnehmern sollte damit allenfalls ein Lesematerial mit auf den Weg gegeben werden. Ob es tatsächlich auch rezipiert wurde, entzieht sich meiner Kenntnis: Eine Resonanz auf diese Schrift hat es nicht gegeben – weil es auch keine internationale Debatte über strategische Grundfragen sozialistischer Entwicklung gab.
Alle Programme der in den sozialistischen Ländern regierenden Parteien gingen von den Vorstellungen von Marx und Engels über die kommunistische Gesellschaftsformation aus. In der ersten Phase, dem Sozialismus, noch behaftet mit den Muttermalen der alten Gesellschaft, sollte das Prinzip gelten: Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seiner Leistung. In der zweiten Phase, dem Kommunismus, solle das Prinzip gelten: Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen. Gemäß dem sowjetischen Modell war selbstverständlich, dass nach Beendigung der Übergangsperiode – der Überführung des Großteils der Industrie in Volkseigentum und der privaten bäuerlichen Betriebe in genossenschaftliches Eigentum – der Übergang zum Kommunismus beginnen müsse. Walter Ulbricht hatte den Mut, sich dieser Vorstellung zu widersetzen. Die SED verkündete nach Vollendung der sozialistischen Umgestaltung vielmehr den »umfassenden Aufbau des Sozialismus« und später »die Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft«.
Das war ein deutlicher Affront gegen die KPdSU, an welchem Walter Ulbricht später auch scheiterte.
Meine persönlichen Erfahrungen mit Walter Ulbricht betrafen ausnahmslos seine kritischen Äußerungen zu Ausarbeitungen, an denen ich beteiligt war. Sie waren sämtlich folgenreich. Sie zeugten nicht nur von Ulbrichts großem theoretischen Interesse, sondern auch von einem tiefen theoretischen Verständnis und einer soliden marxistischen Bildung. Aber auch davon, dass Walter Ulbricht als Partei- und Staatsführer in wichtigen gesellschaftspolitischen Fragen das entscheidende Wort reklamierte. Dies betraf auch das Recht, sich zu wichtigen gesellschaftspolitischen Fragen in lehrbuchartiger Manier zu äußern.
Zum ersten Mal erfuhr ich das als Mitautor des Buches »Übergangsperiode in der DDR«, das von Dozenten des Instituts Politische Ökonomie an der Hochschule für Ökonomie im Verlag Die Wirtschaft 1962 publiziert wurde. Ein Beauftragter des Genossen Ulbricht teilte uns mit, dass dieses Buch aus dem Handel zurückgezogen würde, weil es einen schwerwiegenden politischen Fehler enthielte, indem es die Bündnispolitik der SED gegenüber privaten Unternehmern verfälsche. Konkret handelte es sich um die Aussage, dass die staatliche Beteiligung an solchen Unternehmen eine Übergangsform zum Volkseigentum darstelle.
Dass dieser Satz im Gesetz über die staatliche Beteiligung zu finden war, half uns nicht.
Worum es wirklich ging, offenbarte sich im Schicksal eines weiteren Buches, an welchem ich als Autor beteiligt war. Im Jahre 1967 erschien im Dietz Verlag das Buch »Die politische Ökonomie des Sozialismus – ihre Anwendung in der DDR«, verfasst von Dozenten des Instituts Politische Ökonomie des Sozialismus an der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED. Im Buchtitel sollte auch ausgedrückt werden, dass die Autoren sich auf Erfahrungen der DDR stützten und keine allgemeingültige Lehre der politischen Ökonomie präsentierten. Walter Ulbricht meinte, das aus eben diesem Grunde ein solches Werk nicht allein von Autoren eines Instituts verfasst werden dürfe, sondern von den kompetentesten Experten unseres Landes. Um den Autoren entgegenzukommen und dem Eindruck entgegenzuwirken, sie hätten für den Papierkorb gearbeitet, wurden ihre Texte in sehr geringer Auflage mit dem Vermerk veröffentlicht: »Als Manuskript gedruckt«. Inzwischen war ein neues Autorenkollektiv
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