Walter Ulbricht (German Edition)
verstanden. Die Wissenschaftler und Techniker bei uns haben es mehrheitlich begriffen, die Ideologen nicht.
Ich erinnere mich eines Pädagogischen Kongresses, auf dem ein Gewerkschaftsfunktionär erklärte, wir müssten jetzt Westdeutschland überholen ohne einzuholen.
Völliger Quatsch. Das wollte Ulbricht auch gar nicht, wir haben uns darüber wiederholt ausgetauscht. Er hatte jedoch etwas gegen Kopieren und Nachäffen in jedem Bereich.
Warum ist es uns nicht gelungen, die Vorzüge des Sozialismus mit dem wissenschaftlich-technischen Fortschritt zu verbinden?
Ach, Egon, weil wir politisch große Fehler gemacht haben. Und weil unsere ökonomische Basis einfach zu schmal war, um an die Spitze zu kommen. Jeder erfolgreiche Konzern heute weiß, was auf seinem Gebiet weltweit geschieht. Schon daran scheiterten wir. Das Embargo im Kalten Krieg, das Fernhalten der DDR von der internationalen Arbeitsteilung und dem Informationsaustausch hat uns zusätzlich geschadet. Auch wenn die Genossen der Aufklärung vom Sektor Wissenschaft und Technik uns sehr halfen, alles konnten sie doch nicht besorgen. Uns fehlten Informationen, es herrschte ein ungedeckter Bedarf an internationaler Fachliteratur, davon lebt doch ein Wissenschaftler. Im Kern ist Wissenschaft eine Art Diebstahl, man übernimmt Informationen, um herauszubekommen, was die anderen machen und was man nicht machen sollte – also wieder überholen ohne einzuholen.
Wichtig war auch die Teilnahme an internationalen Kongressen. Doch da ließ unsere Abwehr wiederum viele Wissenschaftler nicht fahren, weil sie Geheimnisträger waren und als gefährdet galten. Diese Übervorsicht hat der DDR geschadet, aber noch weit mehr der Sowjetunion. In der Forschung auf militärischem Gebiet waren unsere Freunde absolute Weltspitze, aber alles blieb geheim. Wer als Erster einen Sputnik auf die Erdumlaufbahn bringt, hatte hinlänglich bewiesen, über was für ein Potenzial er verfügte.
In Selenograd bei Moskau arbeiteten damals etwa 200.000 Wissenschaftler fast nur an Verteidigungsaufgaben. Was die dort geleistet haben, war fantastisch. Ich war zweimal dort und durfte niemanden mitbringen, nicht einmal einen Dolmetscher. Ich habe sie gefragt, warum ihre großartigen Entwicklungen und Entdeckungen nicht auch in die zivile Wirtschaft überführt werden, damit die ganze Gesellschaft ihren Nutzen davon habe. Da hieß es nur: Dafür haben wir keine Mittel - und aus Sicherheitsgründen. Ich wurde einmal zu Verhandlungen in die Sowjetunion geschickt. Unser Politbüro hatte ein Programm von 78 Themenkomplexen beschlossen, an denen wir mit gemeinsam mit sowjetischen Wissenschaftlern und Technikern forschen und arbeiten wollten. Drei Themen fielen heraus, das tangiere zu sehr ihre Sicherheitsinteressen, hieß es. Ich biss wie auf Granit. Ich habe Erich Honecker informiert in der Erwartung, dass er das zur Chefsache machte, doch er verwies mich an Günter Mittag, er begriff offenkundig nicht die Bedeutung. Das hat mich enttäuscht.
Die Masse der wissenschaftlichen Themen, die wir allein bearbeitet haben, bearbeiten mussten, war für die kleine DDR nicht zu bewältigen. Da haben uns die Freunde sehr im Stich gelassen. Sie ließen sich nicht in die Karten schauen, haben aber von uns profitiert.
Letzte Frage, womit ich zum Ausgangspunkt zurückkehre: Walter Ulbricht legte großen Wert auf die Entwicklung von Wissenschaft und Technik, er pflegte zu den Wissenschaftlern ein konstruktives Verhältnis. Würdest du mir widersprechen wollen, wenn ich behaupte, dass ihm das Bildungswesen aber mindestens ebenso wichtig war?
Keineswegs. Er hatte verinnerlicht: Wenn es kein ordentliches Bildungswesen gibt, dann fallen auch Wissenschaft und Technik zurück.
1 Max Volmer (1885-1965), Chemiker mit dem Schwerpunkt Physikalische Chemie (Reaktionskinetik), der im August 1945 mit einer Spezialistengruppe um Gustav Hertz nach Agudzera bei Suchumi kam. Dort wirkte er im Rahmen des sowjetischen Atombombenprojektes an der Einrichtung einer Anlage zur Herstellung von Schwerem Wasser mit. Zusammen mit Gustav Richter gelang ihm der Aufbau eines entsprechenden Ammoniak-Destillationsturmes in Norilsk. 1955 kehrte in die DDR zurück, übernahm eine Professur an der Humboldt-Universität zu Berlin und wurde Mitglied des Wissenschaftlichen Rates für die friedliche Anwendung der Atomenergie beim Ministerrat der DDR . Von 1955 bis 1958 war er Präsident, bis 1963 Vizepräsident der Deutschen Akademie der
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