Walzer, Küsse und Intrigen - Michaels, K: Walzer, Küsse und Intrigen
nicht ungewöhnlich war. Deprimierend schon, da sie sich gerade in der aufregendsten Stadt der Welt aufhielten, doch keineswegs ungewöhnlich.
Nicole liebte ihre Zwillingsschwester mehr, als man mit Worten sagen konnte, nur war das vergangene Jahr sehr schwierig gewesen. Und so schrecklich traurig.
Als ihr Bruder Rafe aus dem Krieg gegen Napoleon zurückgekommen war, um als frischgebackener Duke die Zügel des Familienbesitzes zu übernehmen, hatte er seinen besten Freund zu Besuch mitgebracht.
Und Lydia, die stille, vernünftige, lernbegierige Lydia, hatte sich Hals über Kopf in diesen Captain Swain Fitzgerald verliebt, nur um ihn in der letzten Schlacht gegen Napoleon zu verlieren.
Selbst jetzt noch sah Nicole hin und wieder die Trauer in den großen blauen Augen ihrer Schwester.
Man mochte vielleicht sagen, dass Lydia, mit gerade einmal siebzehn, zu jung gewesen sei, um ihre Gefühle zu kennen, und dass Captain Fitzgerald mit seinen sechsundzwanzig zu alt für sie gewesen sei. Auf den Gedanken wäre Nicole jedoch nie gekommen, denn sie hatte Lydias Kummer gesehen, war ihr Stütze und Halt gewesen und hatte oftmals befürchtet, der Gram werde die Schwester dahinraffen und ihr ihre zweite Hälfte, ihre beste Freundin, ihr anderes Ich auf immer entreißen.
An jenem furchtbaren Tag, als der Duke of Malvern gekommen war, um ihnen vom Tod des Captains zu berichten, hatte Nicole im Stillen geschworen, sich nie, niemals dem verheerenden Gefühl der Liebe zu öffnen. Man musste das Leben genießen, darin schwelgen, es feiern. Sein Glück von der Existenz einer anderen Person abhängig zu machen, hieß nicht nur, Unvernunft einzulassen, sondern auch eine Verletzbarkeit, der Nicole nicht einmal einen einzigen Gedanken widmen mochte.
Nein, sie würde nie einem Mann erlauben, solche Macht über sie zu haben, und das hatte sie sowohl ihrer Schwester als auch ihrer Schwägerin Charlotte gegenüber kategorisch dargelegt.
Natürlich hatten sie nur duldsam gelächelt, denn was blieb einer jungen Dame von Stand übrig, als zu heiraten? Als Schwester eines Dukes gab es keine große Auswahl – ein Gatte, Kinder, Herrin eines großen Hauses, Vorbild modischer Eleganz, gesuchte Gastgeberin. Schließlich konnte sie wohl kaum zur See gehen oder in den Krieg ziehen oder gar einen Sitz im Parlament einnehmen. Nicht, dass sie all das überhaupt angestrebt hätte …
Um ehrlich zu sein, wusste sie weder, was sie mit ihrem Leben anfangen wollte, noch, was sie sich davon erwartete.
Was sie nicht wollte, wusste sie genau.
Vor allem nicht in hoffnungsloser Verzweiflung leben, wie ihre Mutter, oder Liebeskummer leiden, wie ihre Schwester.
Vor allem wollte sie nach ihrer Fasson leben, bis sie eines Tages endlich die Frage beantworten konnte, was sie vom Leben erwartete. Und wenn sie bis dahin zu ihrem Vergnügen ihren Charme entfaltete und ein wenig kokettierte, ganz harmlos nur, konnte das doch wohl nicht allzu schlimm sein?
Sie liebte ihre Familie über alles, sie brauchte niemanden sonst. Wenn sie auch nicht so belesen war wie Lydia, scheute sie sich doch nicht, ihr Francis Bacons Worte entgegenzuschleudern: „Wer Weib und Kinder besitzt, gibt Fortuna Geiseln an die Hand, denn sie hindern ihn an großen Taten, ob verderbten oder tugendhaften.“
Häufig genug hatte die vernünftige Lydia ihr vorgehalten, dass sie eben kein Mann sei (eine Tatsache, die oft an Nicole nagte, da sie fand, dass Männer viel mehr Freiheit genossen) und dass sie, Lydia, bisher bei ihrer Schwester keinerlei Neigung zu großen tugendhaften Taten vermutet hatte. Und wegen der schon bekannten Neigung zu verderbten Taten konnte sie nur die Augen gen Himmel heben und voll liebender Zuneigung seufzen.
Sie waren so verschieden, die Schwestern. Lydia beachtete die Regeln, akzeptierte ihre Stellung in der Welt und machte niemals Ärger, während Nicole sich gegen jede Zucht auflehnte, Regeln als Herausforderung betrachtete und ihre Schwester häufig genug resigniert aufseufzen ließ.
Schon früh hatten die beiden Mädchen sich in ihren so unterschiedlichen Rollen eingerichtet, und inzwischen war Nicole klar, als wie wohltuend sie es empfand, dass Lydia immer verlässlich, wenn auch manchmal langweilig, viel zu vernünftig und ein Muster an Anstand war.
Was aber das Geschehen vom Vormittag nicht erklärte.
„Lydia?“
„Einen Augenblick, Nicole“, murmelte Lydia, blätterte eine Seite um und las offensichtlich einen Absatz zu Ende, ehe sie einen Finger
Weitere Kostenlose Bücher