Wanderungen durch die Mark Brandenburg
1840
Die Stürme waren verweht; das gedemütigte Preu-
ßen war zweimal, unter den Klängen des »Pariser
Einzugsmarsches«, in die feindliche Hauptstadt ein-
gezogen; Friede war wieder, und die Paretzer Tage
brachen wieder an. Nicht mehr Tage ungetrübten
Glücks; sie, die diese Tage verklärt, diese Tage erst
zu Tagen des Glücks gemacht hatte, sie war nicht
mehr; aber Tage der Erinnerung. Die Zeit heilt alles;
nur ein leises Weh bleibt, das in sich selber ein Glück ist; ein klarer Spätsommertag, mit einem durch-leuchteten Gewölk am Himmel, so erschien jetzt Pa-
retz.
Nach wie vor wurde das Erntefest gefeiert; ein Jahr-
zehnt verging, ein zweites begann. Die Heiterkeit der
Dörfler war dieselbe geblieben, auch ihre Unbefan-
genheit im Verkehr mit der »Herrschaft«. Eine Alte,
der der König im Vorübergehen versicherte, mit
nächstem würden alle seine Kinder zu Besuch ein-
treffen, antwortete ohne weiteres: »Die Russen
ooch?« Diese vertrauliche Ausdrucksweise mußte
sich, hinter seinem Rücken wenigstens, der allmäch-
tige Zar gefallen lassen! Der König hatte herzliche
Freude an solcher Unbefangenheit und nährte sie
durch hundert kleine Dinge, die zuletzt auch die
Scheu des Allerbefangensten besiegen mußten. Bei
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einer der Festlichkeiten, die den »Russen« zu Ehren
gegeben wurden, drängte sich des Schäfers Sohn
herzu, ein unglückliches Kind, das an beiden Füßen
gelähmt war, und strengte sich an, über den dichten
Kreis der Umstehenden hinwegzusehen. Niemand
sah es, nur der König. Er ließ ihn zu sich führen,
sprach freundlich zu ihm und gab ihm einen Platz an
seiner Seite.
Überhaupt die junge Welt hatte es vor allem gut.2)
Der König, im großen Verkehr beinahe menschen-
scheu, war ein ausgesprochener Kinderfreund. So
begegnete er einstmals, während er im Schloßpark
aus einem mit Pflaumen und Weintrauben gefüllten
Körbchen aß, einem Jungen und fragte ihn, ob er
wohl eine Pflaume haben wollte. Der Junge, ein ech-
ter Märker, schielte über das Körbchen hin und be-
merkte: »Nee; Plummen hebben wi alleen to Huus;
wenn't noch 'ne Wiendruv' wär.« Der König lachte
und gab. – Einen andern hübschen Zug erzählt Ey-
lert. »›Hast du schon mal Ananas gegessen?‹ fragte
der König. ›Nee, Majestät.‹ – ›Na, dann iß, aber mit
Bedacht. Was schmeckst du heraus?‹ Der Junge, an
den die Frage gerichtet war, kaute, besann sich und
sagte dann: ›Wurst.‹ Alles lachte. Der König aber
bemerkte ruhig: ›So trägt jeder seinen Maßstab in
sich. Dem einen schmeckt die Ananas wie Melone,
dem andern wie Birne oder Pflaume, diesem wie
Wurst. Er bleibt in seinem Gefühlskreise.‹ In den
Speisesaal zurücktretend, wo sich ein Fenster mit
vielfarbigem Glase befand, fuhr er fort: ›Wer die Ge-
genstände draußen durch diese violettfarbige Schei-
be anschaut, hält alles, was er sieht, für violett; so
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ein anderer alles für grün oder gelb, je nach dem
Glas, durch das er blickt. Jeder behauptet, recht zu
haben, und doch haben alle unrecht, und des Wider-
spruchs und Disputierens ist kein Ende. So geht's vor
allem den Herren Theologen. Jeder hat da sein
Glas.‹«
Derselbe Erzähler, an anderer Stelle das Paretzer
Leben während der zwanziger und dreißiger Jahre
zusammenfassend, gibt folgende Schilderung: »Die
ruhigsten und glücklichsten Stunden, die dem Könige
noch beschieden waren, hat er in diesem stillen Ha-
veldorfe verlebt. Alle Singvögel schienen im Paretzer
Park ihren Lieblingsaufenthalt zu haben; über der
Landschaft lag ein Duft, die Wiesen immer frisch,
und über das Sumpfland hin schritten die Störche.
Der König hatte ein Auge für solche Bilder. Wenn er
allein sein wollte, hier fand er, was er suchte. Viele
wichtige Verfügungen sind von diesem abgelegenen
Punkte ausgegangen. Hier senkten sich tiefer und
fester in sein Gemüt die Lebensansichten und Grund-
sätze, die den innern Frieden bewahren. Sein patri-
archalischer Sinn, hier fand er Genüge.«
Wann er zuletzt an dieser Stelle war, ist nicht ver-
zeichnet; wahrscheinlich im Herbst 1839. Im Mai des
folgenden Jahres, als mit dem Frühling draußen ein
frisches Leben nicht wiederkommen wollte, sprach er
mehr als einmal: »Wenn ich nur nach Paretz könn-
te!« Hoffte er Genesung, oder wollte er Abschied
nehmen von der Stätte stillen Glücks? Gingen seine
Gedanken zurück bis an den 20. Mai 1810?
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Wer sagt es? Als das
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