Wanderungen durch die Mark Brandenburg
Fragen . Wir kennen sie, sie sind uns gegenwärtig. Was soll uns die Aufzeich-2221
nung? Was soll uns das Geschriebene? Wir haben die
Tradition . Wir sind führerlos, führen wir uns selbst.
Der Staat, unser Staat, über alles. ›L'État c'est nous!‹«
Eine außerordentliche Bewegung hatte sich aller be-
mächtigt. »Das Ei des Kolumbus!« riefen einige der
Bemoosten. Man schüttelte sich die Hände, es war
eine Szene wie auf der Rütliwiese; alte Gelübde wur-
den erneuert, und, was mehr ist, man hielt sie.
Neu Geltow blieb. Die villenartigen Häuschen, die,
wenn der exodus referendariorum eine Wirklichkeit
geworden wäre, längst ihr zierliches Blütengerank
mit Kürbis und Stangenbohnen vertauscht haben
würden, verblieben in ihrem Rosen- und Geißblatt-
schmuck, und nichts war geschehen, als – die Ver-
fassung war geändert. Die monarchische Spitze war
abgebrochen, errungen war eine freie Schweiz.
Während wir über dies und ähnliches sprachen, hat-
ten wir die letzten Häuser von Neu Geltow erreicht,
und müde vom Marschieren, dazu trocken in der
Kehle, setzten wir uns auf eine am Ackerrand liegen-
de Walze, um hier aus freier Hand ein etwas verspä-
tetes Vesperbrot einzunehmen. Ich richtete dabei
allerhand Fragen an meinen Gefährten, der, wie sich
der Leser aus früheren Kapiteln freundlich erinnern
wird, diese Territorien zwischen Havel und Schwie-
low-See wie seine zweite Heimat kannte, und ließ
mir, unter immer wachsendem Interesse, von den
sozialen Zuständen dieser Kolonie erzählen, von Par-
teien und Gegensätzen, von Krieg und Frieden, von
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Réunions und Festlichkeiten und von den delikaten
Beziehungen zwischen Wirten und Mietern.
»Diese Beziehungen«, so nahm der Gefährte einge-
hender das Wort, »sind sehr gut, wie Sie sich denken
können; es wird hier studiert, aber es wird doch
auch gelebt , und überraschlich ist mir immer nur das eine erschienen, daß, bei aller persönlichen Hinneigung zu der unter ihnen weilenden jungen Rechts-
und Regierungswelt, die Hauswirte und Villenbesit-
zer, die Autochthonen von Neu Geltow, eine ent-
schiedene Vorliebe für höchst unjuristische Aushilfen
an den Tag legen. Ob die in den Zimmern ihrer Mie-
ter aufgehäuften Wälzer und Pandektenstöße die
Frage in ihnen angeregt haben: ›Wer soll da Recht finden?‹ – gleichviel, es ist eine Tatsache, daß sie
eine Art Passion für das aide-toi-même und für ein
›abgekürztes Gerichtsverfahren‹ haben.
Sehen Sie hier drüben das Haus neben dem Eiskel-
ler?« fuhr mein Reisegefährte fort. Ich nickte. »Nun
gut; in dem zweiten Hause dahinter, mit den Jalou-
sien und der kleinen Veranda, wohnen zwei Brüder,
Kaufleute ihres Zeichens, die sich aus den Geschäf-
ten wohl oder übel zurückgezogen haben und als
Zimmervermieter und Hoteliers kleineren Stils in der
frischen Luft von Neu Geltow das Nützliche mit dem
Angenehmen zu verbinden trachten. Sie heißen Ro-
bertson, erzählen von einem rätselhaften Urgroßva-
ter, der aus Schottland hierher verschlagen wurde,
und haben ihre Sofas mit Tartan in den Clanfarben
der Robertsons überzogen. Ihre Vornamen sind Wil-
helm und Robert, wobei jener, wenn es sich darum
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handelt, ›to do the honours for all Scotland‹, im Vor-
teil ist, indem er sich beliebig aus einem Wilhelm in
einen William umwandeln kann, während der jüngere
durch eine Art Sprachtücke unter allen Umständen
ein Robert bleibt. Er hat dafür den Vorzug der Allite-
ration und eines gewissen Skandinavismus: Robert
Robertson.
Sie müssen diese Abschweifung meiner Erzählung
verzeihen. Aber die beiden Brüder sind eben die Hel-
den meiner Geschichte, und wenn es auch eine be-
kannte Sache ist, daß man seine Lieblingsfiguren am
besten durch Tatsachen schildert, so werden Sie
doch eine kurze Charakterisierung gelten lassen.
Robert, zu der Zeit, wo meine Geschichte spielt, hat-
te die linke, Wilhelm die rechte Seite des Hauses
inne. Sie können deutlich die Giebelfenster des letz-
teren sehen. Es war an einem frischen Oktobermor-
gen, die Sonne war noch nicht heraus, als Robert an
die Jalousien von seines Bruders Schlafzimmer poch-
te. Dieser ließ nicht lange auf sich warten und öffne-
te: ›Wilhelm, sie sind bei dir eingebrochen.‹ Das war
ein Donnerwort.
Aber über Wilhelm kam jetzt der alte Geist seiner
Heimat; die Schotten sind scharf in Mein-und-dein-
Fragen; er sprang in die Kleider, dann in den
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