Wanderungen II. Das Oderland.
Festung halten, bis ihm das Schnupftuch in der Tasche brenne«.
Von einzelnen Interpreten ist der bald darauf zutage tretende Verrat Ingerslebens auf dieses Gespräch zwischen ihm und dem Könige zurückgeführt und aus einem durch obige Frage, »ob er sich's auch getraue«, beleidigten Ehrgefühl erklärt, die Tat selbst also als ein Racheakt hingestellt worden. Aber dies ist falsch, weil viel zu tief und ernsthaft genommen. Ein Mann, der eine Komödie wie die, die von der Marwitz erzählt, aufführen konnte, entbehrte solchen Ehrgefühls durchaus, und die Triebfedern seiner Handlungsweise sind entweder in Feigheit und Bestechlichkeit oder günstigstenfalls in einer Art von Apathie zu suchen. Denn er gehörte zu den Leuten, die jeden Glauben an die Widerstands- oder auch nur an die Lebensfähigkeit Preußens verloren hatten. Sie spöttelten und freuten sich eigentlich dessen, was geschah. In den »Vertrauten Briefen« heißt es von Ingersleben, »daß er nichts als einen Magen gehabt habe«. Und dessen sollte das Land bald gewahr werden.
Am 24. Oktober verließen König und Königin Küstrin, und am 31. erschienen 250 Franzosen an der Torschreiberbrücke, von der aus sie mit einem in der Nähe stehenden preußischen Piquet zu plänkeln begannen. Als der Kommandierende dieses Piquets um Verstärkung bat, erhielt er die Antwort: »er (Ingersleben) könne keine Leute aus der Festung lassen, weil sie alle davonlaufen würden «. So ging denn das Piquet zurück und beschränkte sich darauf, die Brückenpfeiler in Brand zu stecken. Von den Wällen aus sah man die Franzosen am anderen Ufer promenieren, lachen und scherzen, wobei sie, wie zur Verspottung ihrer Gegner, die Finger in große Honigtöpfe tauchten, deren sie sich in den Kellern einiger vorstädtischer Bienenzüchter bemächtigt hatten.
Inzwischen rückte die feindliche Hauptkolonne nach, und schon um zwölf Uhr nachts schloß Oberst Ingersleben, ohne daß auch nur ein einziger Schuß gefallen wäre, in einem außerhalb der Stadt gelegenen Hause die Kapitulation ab. Da derselbe kein Amtssiegel mitgebracht hatte, so wurde das Siegel der Färberinnung, das sich am raschesten beschaffen ließ, herbeigeholt und auf diese burleske Weise der Kapitulationsvertrag vollgültig gemacht.
Damit war der Verrat geübt. Es handelte sich aber noch darum, diese Felonie den alten berühmten Bataillonen auch annehmbar zu machen. Und das war nicht leicht, denn Ingersleben kannte sehr wohl die Gesinnungen des gemeinen Mannes. In der Tat rebellierte das Bataillon Oranien, als ihm die Kapitulation endlich mitgeteilt wurde, so daß Ingersleben in die Lage kam, zu seinem eigenen persönlichen Schutz den Feind in Kähnen über die Oder herbeiholen zu müssen. Auch jetzt noch stand die Sache mißlich genug, denn ein am Geschütz postierter Artillerist hob, als er die heranschwimmenden Kähne sah, bereits die Lunte; aber ein Offizier von der Kapitulationspartei hieb ihn mit dem Degen über die Hand und rief: »Kerl, bist du des Teufels.« So landete denn der Feind unangefochten, und Ingersleben selbst ordnete die Waffenstreckung an. Wütend zerschlugen die Soldaten ihre Musketen und wurden dann in die Kriegsgefangenschaft geführt. Viele ranzionierten sich übrigens und waren später mit unter den Verteidigern von Kolberg.
Als dem Kaiser Napoleon einige Tage später die Kapitulation zur Gutheißung vorgelegt wurde, strich er eigenhändig den Paragraphen, der dem von Ingersleben den Eintritt in die französische Armee zusagte. »Er könne einen Mann nicht brauchen, der seinen Herrn verraten habe.« Durch ein preußisches Kriegsgericht wurde der Unwürdige später »zum Arquebusieren« verurteilt, entzog sich aber der Urteilsvollstreckung durch Flucht und lebte noch jahrelang in einem Winkel Deutschlands. Arm und ehrlos, meidend und gemieden – das Los aller, die damals »versagt« hatten. Ob durch Schuld oder Schicksal, war gleich.
Küstrin blieb länger als sieben Jahre in den Händen der Franzosen; erst am 20. März 1814 wurde es an ein preußisches Blockadecorps übergeben.
Manches hat es seitdem erfahren, auch als Festung. Der Warthe, die vordem rechtwinkelig einmündete, hat man einen zweckentsprechenderen Lauf gegeben, und ein Zirkel von Schanzen und Forts umspannt jetzt das alte Festungsviereck. Was sich aber dem Auge des Laien auch heute noch als »Festung Küstrin« darstellt, das sind nach wie vor die sechs alten Bastionen aus Markgraf Hansens Tagen her, mit deren einer
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