Wandlungen einer Ehe: Roman (German Edition)
können, dafür hätte ein einziges Leben gar nicht gereicht. Trotzdem schickten sie die Bücher nicht zurück, sie hatten das Gefühl, sie dürften das nicht, weil man die Literatur fördern muß. Und dazu fortwährend eine Beunruhigung, die Bücherreihen könnten nicht vollständig sein, oder, Gott bewahre, es könnte irgendwo einen schöneren Roman geben als den, den sie sich gerade aus Berlin hatten kommen lassen. Sie waren in ewiger Angst, es könnte ein Gegenstand ins Haus kommen, der zu keiner Serie gehörte, der ein Muster ohne Wert war.
Alles, alles war vollkommen und vollständig bei ihnen. Bloß ihr Leben nicht.
Was fehlte? Die Ruhe. Du, die hatten keinen ruhigen Augenblick. Obwohl sie nach einem genauen Stundenplan lebten und im Haus und in ihrem Leben tiefe Stille herrschte. Nie ein lautes Wort. Nie etwas Unerwartetes. Alles war berechnet, alles vorausgesehen, die Wirtschaftslage, die Masern, das Wetter, alle Wendungen des Lebens, sogar der Tod. Trotzdem waren sie nicht ruhig. Vielleicht wären sie zur Ruhe gekommen, wenn sie sich einmal entschlossen hätten, nicht so abgezirkelt zu leben. Aber dafür fehlte ihnen der Mumm. Offenbar braucht es Mut, einfach so in den Tag hineinzuleben, ohne Stundenplan und Requisiten. Einfach jede Stunde, jede Minute zu leben und nichts zu erwarten. Nur zu sein. Na, die jedenfalls konnten das nicht. Sie konnten aufstehen, großartig wie zu alter Zeit die Könige, denen der ganze Hof zusah, wie sie sich den Mund spülten. Sie konnten frühstücken, so umständlich, wie der Papst hier in Rom die Messe feiert, in der Kapelle, die mit nackten Figuren ausgemalt ist … Ich war letzthin dort, und da ist mir die Morgenzeremonie meiner alten Herrschaft eingefallen.
Und nach dem feierlichen Frühstück gingen sie ihrem nutzbringenden Leben nach. Stellten bis zum Abend prima Maschinen her und verkauften sie alle. Dann erfanden sie neue Maschinen. Und zwischendurch führten sie Gespräche. Abends kehrten sie müde heim, nachdem sie den ganzen Tag nützlich, gebildet, ordentlich und anständig gewesen waren. Das ist höllisch anstrengend. Du bist ein Künstler, du weißt nicht, wie anstrengend es ist, wenn man schon am frühen Morgen weiß, was man bis Mitternacht tun wird. Du lebst einfach, wie es dir deine Künstlernatur eingibt, und weißt nicht, was dir einfallen wird, wenn du am Schlagzeug sitzt und dich das Künstlertum und der Rhythmus packen und du die Schlegel in die Luft wirfst, weil der Saxophonist in Schwung geraten ist und du ihm am Schlagzeug antwortest. Du bist ein Künstler, du bist spontan. Die aber, meine alte Herrschaft, die war anders. Was sie schufen, verteidigten sie mit Krallen und Zähnen. Und sie schufen nicht nur in der Fabrik, sondern auch beim Frühstück und beim Mittagessen. Sie schufen das, was sie Bildung nannten, auch wenn sie nur lächelten oder sich diskret die Nase putzten. Es war ihnen sehr wichtig zu bewahren, was sie mit der Arbeit und den Manieren, mit ihrem ganzen Leben, geschaffen hatten, ja, das Bewahren war wichtiger als das Schaffen.
Sie schienen gleichzeitig mehrere Leben zu leben. Gleichzeitig das Leben der Väter und der Söhne. Schienen gar nicht separate, einmalige, nie wiederkehrende Persönlichkeiten zu sein, sondern bloß ein Ruck in einem langen Leben, das nicht von einem einzelnen, sondern von der Familie, der bürgerlichen Familie gelebt wird. Deshalb hüteten sie die Photographien, die Gruppenaufnahmen, als wären es berühmte Gemälde. Das Vermählungsphoto von Großmama und Großpapa. Das Bild des pleite gegangenen Onkels im Gehrock oder mit dem Strohhut auf dem Kopf. Die Aufnahme einer glücklichen oder unglücklichen, jedenfalls lächelnden Tante mit Sonnenschirm und Schleierhut. Das waren alles sie selbst, eine sich langsam entwickelnde und langsam vergehende Person, die bürgerliche Familie. Mir war das sehr fremd. Für mich war die Familie eine Notwendigkeit, ein Zwang. Für sie war sie eine Aufgabe.
So waren die also. Und da sie in die Ferne blickten und in langen Zeitabständen rechneten, waren sie nie ruhig. Ruhig ist nur, wer im Augenblick lebt. So wie nur der Atheist den Tod nicht fürchtet, weil er nicht an Gott glaubt. Du glaubst an Gott? Was brummst du da? Aha, du glaubst an Gott, und wie … Ich habe nur einen Menschen gesehen, von dem ich sicher weiß, daß er den Tod nicht fürchtete. Ja, der Künstlerartige. Der glaubte nicht an Gott, deshalb hatte er vor nichts Angst, weder vor dem Tod noch vor dem
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