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Wandlungen einer Ehe: Roman (German Edition)

Wandlungen einer Ehe: Roman (German Edition)

Titel: Wandlungen einer Ehe: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sándor Márai
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hat einen Sinn, morgens den Mechanismus aufzuziehen, damit er bis zum Abend tickt.
    Denn man hofft noch lange. Man findet sich nur sehr schwer mit der Hoffnungslosigkeit ab, mit der Tatsache, daß man allein ist, tödlich und hoffnungslos allein. Nur sehr wenige halten die Erkenntnis aus, daß es für die Einsamkeit ihres Lebens keine Lösung gibt. Man hofft, rennt herum, flüchtet sich in Beziehungen, und bei diesen Fluchtversuchen ist keine echte Leidenschaft, keine Hingabe, man stürzt sich in Beschäftigungen, arbeitet viel, macht systematisch Reisen, oder man führt ein großes Haus, kauft sich Frauen ein, mit denen man nichts anfangen kann, oder man beginnt zu sammeln: Fächer, Edelsteine, seltene Insekten. Doch das alles hilft nichts. Und während man das alles betreibt, weiß man auch ganz genau, daß es nichts hilft. Und hofft noch immer. Und weiß selbst nicht, worauf. Man spürt genau, daß noch mehr Geld, die noch vollständigere Insektensammlung, die neue Geliebte, die interessante Bekanntschaft, der hervorragend gelungene Abend und die noch rauschendere Gardenparty, daß das alles nichts hilft. Deshalb hält man Ordnung, aus Not, aus Verwirrtheit. In jedem wachen Augenblick ordnet man um sich herum das Leben. Fortwährend wird etwas »erledigt«, Dokumente oder Schäferstunden oder das Gesellschaftsleben … Bloß nie allein bleiben! Bloß keinen Augenblick lang die Einsamkeit sehen! Rasch, Menschen her. Oder Hunde. Oder Gobelins. Oder Aktien. Oder gotische Gegenstände. Oder Geliebte. Rasch, bevor man klar sieht.
    So lebt man. So lebten wir. Und kleideten uns äußerst sorgfältig. Mit fünfzig zog sich mein Vater so sorgfältig an wie ein Geistlicher vor der Messe. Sein Diener kannte seine Gewohnheiten haargenau, er bereitete schon am frühen Morgen den Anzug, die Schuhe, die Krawatte vor, mit der Sorgfalt eines Sakristans, und mein Vater, der bestimmt nicht eitel war und wenig auf sein Äußeres hielt, begann eines Tages pedantisch darauf zu achten, daß seine würdige Altherrengewandung makellos sei, kein Staubkörnchen auf der Jacke, keine Falte in der Hose, kein Fleck auf Hemd oder Kragen, kein abgewetzter Rand an der Krawatte. Und dann begann die nächste Stufe des Ordnunghaltens, das Frühstück oder das Vorfahren des Wagens, das Zeitunglesen, die Post, das Büro, die ehrfürchtig Rapport erstattenden Angestellten und Geschäftspartner, der Klub und das Gesellschaftsleben. Und das alles mit solch angespannter Aufmerksamkeit, solcher Pedanterie, als ob jemand das Ganze beobachtete, als ob man abends jemandem über die sakralen Handlungen Rechenschaft ablegen müßte. Das war es, wovor meine Mutter Angst hatte. Denn hinter der Ordnung, den Kleidern, dem Gobelinsammeln und dem Klubbesuch, den Gästen und der Geselligkeit zeigten sich schon die Monstren der Einsamkeit wie Eisberge im warmen Meer. Weißt du, innerhalb bestimmter Lebensweisen und Gesellschaftssysteme meldet sich die Einsamkeit in einem bestimmten Lebensalter ganz ähnlich wie die Krankheit im verbrauchten Organismus. Das geschieht nicht von einem Tag auf den andern, die Schicksalsaugenblicke des Lebens, die Krankheit, die Trennung, die endgültige zwischenmenschliche Bindung, das alles geschieht nicht so, daß jemand zu einer bestimmten Stunde etwas erklärt oder feststellt oder herausfindet. Wenn wir der entscheidenden Geschehnisse gewahr werden, ist meistens schon alles vollzogen, und es bleibt uns nichts anderes übrig, als es zu akzeptieren, zum Anwalt zu laufen oder den Arzt, den Priester kommen zu lassen. Denn anders gesagt, ist die Einsamkeit ein Zustand, der den Menschen umschließt wie ein Käfig ein ausgestopftes Tier. Nein, das Kranke ist vielmehr der Vorgang vor der Einsamkeit, der Vorgang, den ich Erstarrungsprozeß genannt habe. Davor wollte mich meine Mutter bewahren.
    Wie gesagt, es wird alles mechanisch. Alles erkaltet. Die Zimmer sind zwar immer gleich warm, deine Körpertemperatur beträgt nach wie vor sechsunddreißig-sechs, dein Puls ist achtzig, und dein Geld ist auf der Bank oder im Unternehmen. Einmal pro Woche gehst du in die Oper oder ins Theater, möglichst in eins, wo man heitere Stücke spielt. In den Gasthäusern wählst du leichte Speisen, den Wein mischst du mit Wasser, denn du hast die Lektionen des gesunden Lebens gelernt. Alles läuft rund. Dein Hausarzt, falls er einfach ein guter, aber kein richtiger Arzt ist – das ist nicht dasselbe –, schüttelt dir nach der halbjährlichen Kontrolle

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