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Wandlungen einer Ehe: Roman (German Edition)

Wandlungen einer Ehe: Roman (German Edition)

Titel: Wandlungen einer Ehe: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sándor Márai
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hatte ich schon an dem Nachmittag gewußt, daß ich nicht bei Sinnen war. Ich wußte es auf die Art, wie es ein Tobsüchtiger weiß, der mit dem Kopf gegen die Wand rennt oder mit dem Pfleger ringt oder sich nachts mit einem rostigen Nagel ein paar Zähne herausstochert, während er doch weiß, daß das, was er schäumenden Mundes an sich selbst verübt, eine äußerst schädliche, schmachvolle, seiner und der Gesellschaft unwürdige Handlung ist. Er weiß es nicht erst, wenn der Anfall vorüber ist, sondern auch in den Augenblicken, da er die schmerzhafte, wahnsinnige Handlung vollführt. Auf diese Art wußte auch ich an dem Nachmittag vor dem Kamin, daß alles, was ich sagte und plante, völliger Irrwitz war, daß ich mir da Dinge vorstellte, die meiner Person und meiner Position unwürdig waren. Und so sah ich später auf diesen Augenblick zurück wie auf einen Anfall, wenn man die Herrschaft über seinen Willen verliert, wenn Gefühle und Sinne selbständig zu funktionieren beginnen, wenn die kontrollierende, bremsende Kraft der Seele gelähmt ist. Ohne Zweifel hatte ich an jenem Nachmittag unter dem Weihnachtsbaum den einzigen ernstlichen Wahnanfall meines Lebens gehabt. Auch Judit wußte das, deshalb hörte sie so aufmerksam zu, wie jemand, der eines Tages an einem Familienmitglied die Anzeichen des Nervenzusammenbruchs wahrnimmt. Selbstverständlich wußte sie auch noch etwas anderes: Sie kannte den Grund des Anfalls. Hätte an jenem Nachmittag jemand – ein Fremder oder ein Familienmitglied – gelauscht, hätte er ganz sicher den Arzt kommen lassen.
    Das alles war für mich selbst auch überraschend, weil ich sonst alles im Leben mit Bedacht tue. Vielleicht sogar ein bißchen zu bedacht. Vielleicht fehlt meinen Handlungen gerade das, was man Spontaneität nennt. Ich handle nie unmittelbar, einfach aufgrund eines Einfalls oder aus der Laune des Augenblicks oder weil es gerade meinen Neigungen oder den Möglichkeiten entspricht. Auch in der Fabrik und im Geschäftsleben hatte ich den Ruf, ein bedächtiger Mensch zu sein, der gut überlegt, bevor er sich zu etwas entschließt. Und so überraschte die einzige Nervenschwäche meines Lebens mich selbst am meisten, denn ich wußte ja während des Gesprächs ganz genau, daß ich verrückte Dinge sagte, daß alles nicht so kommen würde und daß ich ganz anders vorgehen müßte, schlauer oder vorsichtiger oder hartnäckiger. Weißt du, bis dahin war ich in der Liebe nach dem Gesetz des Cash-and-carry verfahren, so wie die Amerikaner im Krieg: zahlen und gleich mitnehmen. Das war meine Einstellung. Nicht gerade vornehm, aber jedenfalls von einem gesunden Egoismus. Hier hingegen hatte ich nicht gezahlt und auch nicht mitgenommen, was ich haben wollte, sondern ich hatte gefleht und erklärt, und das auf eine unmögliche Art, in einer völlig demütigenden Situation.
    Für den Wahn gibt es keine Erklärung. Einmal bricht er in fast jedes Leben ein. Und vielleicht ist ein Leben, über das nie ein solcher Gemütssturm hinwegfegt, dessen Grundfesten nie von einem solchen Erdbeben erschüttert werden, das nie von einem Tornado heimgesucht wird, der die Ziegel von den Dächern reißt und heulend alles von der Stelle rückt, was Vernunft und Anstand bis dahin in Ordnung gehalten haben, vielleicht ist ein solches Leben armselig. Über mein Leben ist der Wahn gekommen. Du fragst, ob ich es bedaure. Nein. Aber ich sage auch nicht, das sei der Sinn meines Lebens gewesen, jener Augenblick. Er hat stattgefunden wie eine Krankheit, und wenn man von einer plötzlichen Krankheit befallen wurde, fährt man zur Rekonvaleszenz am besten ins Ausland. Das tat ich auch. Eine solche Reise ist natürlich immer auch eine Flucht. Doch zuvor wollte ich sicher sein, und ich bat meinen Freund Lázár, den Schriftsteller, das Mädchen einmal zu empfangen, es sich anzuschauen, mit ihm zu sprechen. Und ich bat Judit, zu Lázár zu gehen. Jetzt weiß ich, daß sie recht hatte, daß ich feig war, daß ich deswegen so handelte. Weißt du, als ob ich sie zu einem Arzt schickte, der untersuchen sollte, ob sie gesund ist . Schließlich hatte ich sie fast auf der Straße aufgelesen, auf irgendeinem Schauplatz, wie es heutzutage in der Kriegsberichterstattung heißt. Sie hörte mich mitleidig an, als ich mit meiner Bitte kam. Aber sie wehrte sich nicht, ging willig zu Lázár, stumm und wahrscheinlich beleidigt, als würde sie sagen: »Na gut, wenn du darauf bestehst, gehe ich zum Arzt und lasse mich

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