Wanja und die wilden Hunde
die Öffnung auf der Vorderseite ein großes, loses Blech geschoben. Im Inneren des Ofens, auf seiner gesamten Länge von ungefähr zwei Metern und mit einer Breite von einem Meter, kann man kochen, backen, etwas warmhalten oder Nahrung trocknen. Jeder Haushalt hat zum Kochen jedoch noch eine Plitka (elektrische Kochplatte), die vorwiegend im Sommer genutzt wird.
Im Keller des Hauses, in den man nach Anheben einer Bodenklappe über eine Stiege gelangt, werden Kohlen, Äpfel und Birnen gelagert.
Als Kühlschrank dient ein winziges Hüttchen neben dem Haus, dessen über der Erde liegender Teil vorwiegend aus einem Spitzdach besteht. Der größere, unter der Erde liegende Bereich besteht aus einem tiefen Schacht, in den man mithilfe einer Leiter steigt. Dort wird Eingemachtes aufbewahrt und alles andere, was kühl gelagert werden muss.
In einem kleinen Steinbunker am Haus, der eine Stahltür besitzt, befinden sich all die Dinge, die bei einem Feuer nicht verbrennen dürfen: Fotos, Papiere und alles, was dem jeweiligen Menschen wichtig ist.
Ein Plumpsklo und eine Sommerküche vervollständigen die häuslichen Vorrichtungen. Wenn das Kloloch voll ist, wird es zugeschüttet und an einer anderen Stelle eine Grube ausgehoben, über die man das Klohäuschen schiebt.
Wanja begleitet mich zu den Babuschkas, denen ich bei ihrem Tagwerk helfe, und wartet, während ich bei ihnen bin, unter dem Fundament ihres Hauses.
Jedes Haus ist auf Pfählen in den hellen Sand gebaut. Im Laufe der Zeit beginnen die Pfähle im Sand abzusinken, und die Häuser neigen sich. Viele Häuser in Lipowka wirken wie Schiffe bei hohem Seegang.
Am schlimmsten hat es das Haus der heiligen Natascha getroffen, die seit dem Wegzug des Pfarrers dessen Aufgaben übernommen hat – Aufbahrungen, Beerdigungen, Beichten. Nataschas Gesicht wirkt wie ein klarer, heiterer Bergquell. Wanja findet bei meinen Besuchen unter ihrem Haus genügend Platz, denn es neigt sich bedrohlich zur Seite.
Mein Angebot, junge Arbeiter aus dem Nachbarhof zu holen, damit sie das Fundament anheben, beantwortet Natascha mit der Aussage: »Ach, Majetschka, ich bin doch selbst krumm und schief, da passen wir gut zusammen, und ich will mit dem Haus, so wie es ist, sterben.«
In Nataschas Flur sind an der rechten Wandseite dicke Schlaufen angebracht, mit deren Hilfe man sich den Gang entlanghangeln kann, um nicht in die Linksneige des Hauses zu fallen.
Im Wohnzimmer stehen ein Tisch, zwei Stühle und ein Bett auf der linken Seite. Sie alle haben dicke Keile unter den Beinen, was ihnen ein fast gerades Aussehen verleiht und die Assoziation an Keilabsätze weckt.
Der Fußboden bleibt dennoch schief, und egal, ob ich laufe, stehe oder sitze – immer habe ich das Gefühl umzukippen oder zu schwanken. Natascha läuft in diesen schiefen Wohnverhältnissen gelassen hin und her und serviert Tee.
Wenn ich ihr Gesicht sehe, fühle auch ich mich jedes Mal wie durch ein Wunder plötzlich gerade und sehr geborgen. Es gibt einige Verrichtungen, bei denen ich ihr täglich helfe, und mit der Zeit gewöhne auch ich mich an das sinkende Wohnschiff.
Ich erfülle meine Aufgaben, so wie jeder in diesem Selbstversorger-Dorf seinen Aufgaben für sich selbst und das gesamte Dorf nachgeht. Jeden Tag führt mein Weg mich zu acht Babuschkas.
Vera und ich helfen den ganz Alten, die Unterstützung bei schweren Arbeiten brauchen. Das kann Feldarbeit sein, Sensen, Malern oder andere Dinge. Neben diesen Tätigkeiten habe ich jedoch oft das Gefühl, dass meine eigentliche Daseinsberechtigung im Dorf darin besteht, mir die Lebensgeschichten der Babuschkas anzuhören. Dadurch, dass sie für mich eine Neuigkeit darstellen, erleben sich offenbar auch die Babuschkas noch einmal neu. Mit großer Hingabe werden mir frühere Heiraten, Geburten, der Lebensweg der Kinder, Tierseuchen, Brände, Ernteschäden, politische Wendungen, Krankheiten und Nachbarklatsch berichtet. Auch wenn ich in den ersten zwei Jahren schon aus Gründen des Dialekts nur wenig davon verstehe und immer hoffe, im richtigen Moment Zustimmung oder Anteilnahme zu zeigen, so habe ich spätestens bei der sechsten Wiederholung einer Geschichte viele neue Vokabeln gelernt.
Jeden Abend Punkt 19 Uhr kommt die Älteste des Dorfes, Baba Nastja (102 Jahre), von ihrer Gartenarbeit auf einen kurzen Schnack herüber auf meine Haustreppe.
Während sie erzählt, nimmt sie hin und wieder meine Hände in ihre riesigen, rissigen Arbeitshände. Sie küsst sie wie die
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