Wanja und die wilden Hunde
dawai nicht unbedingt »schnell« heißen muss, wie viele Nichtrussen glauben. Meistens heißt es einfach nur »klar«, »machen wir« oder »los geht’s«.)
Mein Nachbar verlangt Wodka statt Geld und vor allem Stillschweigen über diesen Tabubruch – eine wechselseitige Hundebetreuung findet in Lipowka normalerweise nicht statt.
Wanja klebt von dem Moment an an meinen Fersen, in dem ich zu packen beginne. Ich spüre, dass er Bescheid weiß. Wir können voreinander nichts verheimlichen, besonders ich nicht vor ihm. Ich trällere, versuche fröhlich zu erscheinen – es hat alles keinen Sinn. Wanja schleicht mit gesenktem Kopf und eingezogener Rute hinter mir her. Wie soll man einem Hund erklären, dass man wiederkommt und ihn nicht für immer verlässt?
Am nächsten Morgen bringe ich Wanja zum Nachbarn. Er will nicht in dessen Scheune, spürt, dass etwas ganz und gar nicht in Ordnung ist. Noch aus großer Entfernung höre ich sein Bellen und Wummern gegen die Tür. Vera muss mich vorwärtstreiben, damit ich nicht wieder umkehre. Ich habe das Gefühl, Wanja zu verraten.
Die kommenden achtzehn Kilometer sind ein Albtraum. Ich stolpere neben Vera her und breche immer wieder in Tränen aus.
Die Brücken, die über die zwei Flüsse zwischen Lipowka und dem nächsten Dorf, Demuschkina, führten, liegen – vom Wintereis der letzten Jahre erdrückt – im Wasser. Mitunter baut die Forstbrigade provisorisch eine neue Brücke, um Holz aus dem riesigen Wald zu holen, der hinter Lipowka liegt. Danach sprengt das Wintereis das Provisorium wieder, und auch dieses liegt dann im Fluss. In diesem Jahr gibt es wieder einmal keine Brücken und so müssen Vera und ich schwimmen.
Am ersten Fluss angekommen, ziehen wir uns nackt aus, verstauen Kleidung und Gepäck auf einer Luftmatratze, die nach meiner Anregung im Sommer das schwere Schlauchboot ersetzt und den Fußmarsch erleichtert, und schieben sie beim Schwimmen vorsichtig vor uns her. Am anderen Ufer ziehen wir uns wieder an und wandern weiter bis zum nächsten Fluss.
Nach zwei Stunden erreichen wir den zweiten Fluss, Staritza (»die Alte«). Seine Strömung ist stark. Sie wird uns etwa zweihundert Meter weit abtreiben. Deshalb starten wir in dieser Distanz versetzt, um an einer Uferstelle anzukommen, die begehbar ist.
Nach einem weiteren Fußmarsch von 45 Minuten kommen wir in Demuschkina an und suchen einen Fahrer, der uns nach Sassowo zum Bahnhof fährt. Diese Suche ähnelt jedes Mal einem Lotteriespiel, weil die wenigen Männer, die ein Auto besitzen, nicht unbedingt zu Hause sind und auf uns warten. In Russland aber scheint man immer zu gewinnen, wenn man Hilfe braucht. Zumindest zu dieser Zeit und in ländlichen Gebieten.
Oft fährt uns Juri, der Mann, der uns auch bei meinem ersten Besuch in Lipowka mitgenommen hatte. Er ist ein kräftiger Kerl mit Augen, die aussehen wie auf dem Rücken liegende blaue Halbmonde.
Leider verstehe ich kein Wort von dem, was er sagt. Der Dialekt in Demuschkina bleibt mir gänzlich verschlossen. Während der Lipowkaer Dialekt typischerweise daran zu erkennen ist, dass er alle Vokale einfach in die Länge zieht und dann fallen lässt, erscheint mir der Dialekt im Nachbardorf so willkürlich, dass ich eine Logik nicht entdecken kann.
Vera jedoch kann sich verständigen und wir finden einen Traktorfahrer, der weiß, wo Juri ist. Auf dem Traktor fahren wir los. Vera sitzt hinter dem Fahrer, ich sitze auf ihrem Schoß. Mehr Plätze gibt es nicht.
Das ohrenbetäubend laute Gefährt hält an einem Hof. Juri sitzt auf einer Wiese mit fünf Männern zusammen. Eine Flasche Wodka funkelt in der Sonne.
Vera fragt ihn, ob er uns fahren kann.
»Er arbeitet gerade«, übersetzt sie mir seine Antwort.
»Wie viel will er haben?«, frage ich, bereits routiniert in diesen Dingen.
Seit sein Jeep auseinandergefallen ist, besitzt Juri einen »Oasik-Bus«, der einem Kleintransporter mit sechs Sitzen ähnelt. Im Laufe der ungefähr fünfzig Kilometer bis nach Sassowo hält er sechs Mal. Am Anfang lädt er eine alte Bäuerin ein, die mit Mühe die Straße entlangläuft. Danach einen Bauern mit einem kaputten Traktorteil, dann eine Frau mit einem Korb voll eingewecktem Gemüse. Auch der junge Mann mit dem Rucksack wird mitgenommen und eine Bäuerin mit einem Huhn auf dem Arm. Kurz vor Sassowo hält Juri für eine Frau mit hohen Absätzen und Minirock. Aus dem Sechssitzer ist ein Neunsitzer geworden.
Da Juri in Sassowo dann noch mehrfach aus dem Auto
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