Wanja und die wilden Hunde
Patschhändchen eines Babys und ruft: »Mein Sonnchen, wer hat dich geschickt?« Dass diese uralte Frau, der zwei Häuser abgebrannt sind, die acht Kinder großgezogen hat und die noch mit über hundert Jahren täglich alle Arbeiten allein verrichtet, mich so behandelt, lässt mich oft rot werden.
Begriffe wie Lenin, Zar, Kolchose und Jelzin wandern gelassen durch die Abendlandschaft und spiegeln Nastjas eigene 102-jährige innere Landschaft wider. Ich sitze mit mehreren Generationen russischer Geschichte auf meiner Treppe und danke meinem Schicksal für die Erfahrungen, die ich hier machen darf.
Abendplausch mit der 102-jährigen Nastja
Trete ich aus dem Haus einer Babuschka wieder heraus, krabbelt Wanja darunter hervor und kann sich vor Freude kaum halten. Immer wieder stupst er mit seiner Schnauze in meine Handfläche, legt mir die Vorderpfoten auf die Schulter und leckt mir das Kinn. (Es gibt kein Foto von uns beiden, auf dem sich nicht Wanjas Schnauze oder sein ganzer Kopf auf meinem Körper befindet.)
Mich rührt das sehr.
Jeden Nachmittag laufen wir zusammen zum Fluss. Meinem Lieblingsort.
Es gibt dort eine Landzunge, an der ich auch meine Wäsche wasche.
Dort sind Schwalben. Sand. Stille.
Und ein derartiges Gefühl von Frieden, dass ich mir bis heute diesen Ort vorstelle, wenn ich zu mir finden will.
Lege ich mich in den noch frühlingskalten Sand, lässt Wanja sich in gestreckter Linie hinter mir nieder und legt seinen Kopf auf meine Schulter. Wir bilden dann ein sehr langes Wesen aus einem Hund und einem Menschen.
Anton
Mein Nachbar Wasja ist ein ungewöhnlicher Bauer. Wenn er das Wasser holt, geht er nicht wie jeder andere im Dorf zielstrebig zur Wegpumpe, füllt Wasser ein und schleppt es zurück zum Haus. Nein, er schlendert mit dem Wasserträger über der rechten Schulter die dreihundert Meter von seinem Haus bis zur Pumpe und blickt interessiert von einem Baum zum nächsten. Über die Wiesen, in den Himmel und auf den Boden. Dabei bewegt er die Augenlider wie jemand, der etwas zwischen den Fingern zerreibt, um die Qualität zu prüfen. Er wirkt wie ein Sammler.
Ein Sammler von Eindrücken.
Ich stelle eine kleine Skulptur neben mein Haus, die ich aus Holz angefertigt und angemalt habe. Sie stellt eine junge Bäuerin mit Kopftuch dar, die zum Himmel schaut. Ich rechne damit, dass diese fremde Form der Gartengestaltung hier in Lipowka Unmut erregt, wie fast alles, was fremd ist.
Am nächsten Morgen, ich sitze gerade am Küchentisch und schaue aus dem Fenster, läuft Wasja den Weg entlang und lässt seinen Sammlerblick schweifen. Plötzlich hält er inne und blickt zu meinem Grundstück herüber. Lange betrachtet er die kindsgroße Skulptur. Dann setzt er scheppernd seinen Wasserträger mit den zwei Eimern ab und kommt, zum ersten Mal seit meinem Einzug vor einem halben Jahr, auf meine Seite herüber. Er betrachtet mit schief gelegtem Kopf die junge Bäuerin, die wiederum mit schief gelegtem Kopf zum Himmel schaut.
»Guten Tag, Onkel Wasja«, rufe ich aus dem Fenster. »Was meinst du, was das ist?«, frage ich, deute auf die Holzskulptur und erwarte gespannt seine Antwort.
In seiner bedächtigen Art betrachtet Wasja das neue Objekt von links und rechts und von oben nach unten, kneift die Augenlider zusammen und stellt abschließend fest: »Das ist ein Engel!«
Diese Neuigkeit verbreitet sich im Laufe des nächsten Tages im Dorf. Ich werde nach dem Grund für die Herstellung des Engels gefragt und antworte, angeregt durch Wasjas Idee: »Er soll das Haus beschützen.«
Als dann vier Tage später der Blitz in die Skulptur fährt und mein Haus, das keinen Blitzableiter besitzt, verschont, steht für die Bauern unumstößlich fest: Der Engel hat das Unglück abgewehrt.
Auch bei mir selbst, einer zu dieser Zeit noch Ungläubigen, hinterlässt dieser Vorfall Spuren. Ich baue sofort einen neuen Engel, der fortan den Eingang meines Hauses beschützen wird. Zudem erhalte ich mehrere Anfragen für den Bau weiterer Engel.
So abwesend mein Nachbar Wasja scheint, so wach wirkt sein Hund. Er ist ein großer, rothaariger Geselle, der in Deutschland als Eurasier-Mischling durchgehen würde. Er bildet stets den Vortrupp, wenn Wasja zum Brunnen läuft. Sieht er mich, bleibt er schwanzwedelnd stehen, lässt sich den Pelz kraulen und geht dann weiter.
Zumindest bis Wanja bei mir einzieht.
Von da an läuft der Hund immer hinter Bauer Wasja. Er schaut vorsichtig hinter dessen Beinen hervor und hält in dem
Weitere Kostenlose Bücher