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Wanja und die wilden Hunde

Wanja und die wilden Hunde

Titel: Wanja und die wilden Hunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maike Maja Nowak
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steigt, um in Häusern zu verschwinden und mit Päckchen und Beuteln wieder herauszukommen, mache ich mir langsam Sorgen, ob wir unseren Abendzug noch erreichen.
    »Vera, wohin geht er denn immer?«
    Vera zuckt ergeben die Schultern. Ich frage eigentlich nur noch aus einer deutschen Gewohnheit heraus. Schon lange habe ich verstanden, dass man hier mit Ungeduld gar nichts erreicht.
    Dann beschließe ich, etwas sehr Russisches zu tun: Ich vertraue auf das Schicksal.
    Und tatsächlich. Fünf Minuten vor der Abfahrt erreichen wir unseren Zug.
    Vera leiht Bettwäsche für unsere Liegen, ich packe das Abendbrot aus. Ich liebe es mittlerweile, Platzkart , also im Großraumwagen, zu reisen.
    Die Sechs-Personen-»Abteile« sind keine Abteile im eigentlichen Sinne, da sie zum Gang hin nicht geschlossen sind. In jedem dieser offenen Abteile befinden sich vier Liegen – jeweils zwei übereinander – auf der einen Seite sowie zwei längs übereinander angebrachte Liegen auf der anderen Seite des Ganges. Ein Großraumwaggon besteht aus etwa acht solcher offenen Abteile.
    So ein gemeinschaftliches Abendbrot mit bis zu achtundvierzig Menschen ist ein Erlebnis: Lebensmittel werden getauscht, es wird zum Feiern und zum Plausch eingeladen. Das gemeinsame Schlafen auch. Im geschlossenen Kupe (Abteilwagen) mit den Vier-Personen-Liegen dagegen geht es eher zu wie überall auf der Welt.
    Diese Nacht verläuft ruhig und wir kommen im Morgengrauen nach acht Stunden Fahrtzeit in Moskau an.
    Die Lautstärke und der Gestank der Großstadt sind nach der Unberührtheit Lipowkas ein Schock. Der starke Smog reizt die Lunge und das chlorhaltige Leitungswasser die Magenschleimhäute.
    Wir erledigen zügig alle Dinge, und die ganze Zeit über fühle ich mich elend und traurig. Wanjas Blick, als ich ihm die fremde Scheunentür vor der Nase zumachte, schiebt sich immer wieder in meine Gedanken.
    »Aber er hat es doch gut«, versucht Vera in solchen Momenten zu trösten. »Ihm fehlt es doch an nichts, du kommst ja wieder.«
    »Das weiß er aber nicht«, sage ich, untröstlich.
    Am letzten Tag kaufen wir russisches Konfekt für uns und die Babuschkas, Wegwerfrasierer für die Djeduschkas und viele andere »luxuriöse« Dinge. Auch in Tüten eingeschweißtes Nassfutter für Wanja und Anton nehme ich mit, was Vera mit einem Kopfschütteln quittiert, denn ich werde all das achtzehn Kilometer weit tragen müssen. Das Hundefutter jedoch möchte ich für schlechte Zeiten aufbewahren, in denen ein Hund krank ist oder in denen es zu wenig Jagderfolge gibt. Ich kann es mit Nudeln oder Reis und Öl strecken, die ich noch in der Vorratskammer habe. Sicher ist sicher. Ich bin schließlich Deutsche.
    Mit unseren Einkäufen kehren wir erschöpft in die Moskauer Wohnung zurück, um für die Rückfahrt zu packen. Kurz vor unserem Neubaublock an der Juschnaja liegt ein brauner, fast zum Skelett abgemagerter Hund am Straßenrand. Er sieht aus, als wäre er nicht mehr am Leben.
    Vera fotografiert ihn. Sie will das Bild einer Tierschützerin geben, die gegen das Elend der Moskauer Straßenhunde kämpft. Beim Klicken des Fotoapparates blinzelt der Hund und hebt den Kopf. Er blickt mir direkt in die Augen und mir ist klar, dass ich dieses Tier dort nicht liegen lassen werde. Es ist ein ganz junger Hund, wie man trotz seines erbarmungswürdigen Zustandes erkennen kann.
    Mühsam stemmt er sich auf die Vorderbeine und erhebt sich dann vollständig. Er torkelt auf mich zu, stellt sich vor mich hin, wedelt kraftlos mit dem Schwanz und blickt mich aus braunen Augen an. Vera bemerkt meine Gefühlsregung und zieht mich energisch weiter. »Lass es.«
    Wir haben uns oft über die Straßenhunde in Moskau unterhalten. Es gäbe Tausende, die zu retten wären. Die wichtigste Frage aber bleibt: Wohin mit den Geretteten? In diesem Falle jedoch weigere ich mich weiterzugehen.
    »Ach komm, Baba Luba nimmt ihn bestimmt. Ihr Hund ist doch verschwunden«
    Das kleine Knochengerüst blickt uns bettelnd an.
    Vera zieht die Schultern hoch und atmet hörbar aus: »Aber der hat sicher Flöhe, Würmer und alles andere und wie sollen wir ihn im Zug mitnehmen und über die Flüsse bekommen?!«
    Ich schlage vor, zum Tierarzt zu gehen und den Hund untersuchen und behandeln zu lassen. Der Hund unterstützt meine Bemühungen mit verstärktem Schwanzwedeln. Er scheint zu spüren, dass es jetzt um die künftige Wurst geht.
    »Es ist Abend und die Tierarztpraxis hat geschlossen«, begehrt Vera ein letztes Mal

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