Wanja und die wilden Hunde
Haus.
Ich komme in der Erwartung in die Küche, alle wären sehr erleichtert, dass dieses Mal ein Treffen ohne den unerwünschten Gast stattfinden kann. Schockierte Blicke. Niemand sagt etwas. Nach einiger Zeit bemerkt die Malerin: »So etwas kannst du nicht machen. Das tut man hier nicht. Man schickt niemanden weg. Das verbietet die Gastfreundschaft.«
Ich bin ratlos. Wir sitzen hier und feiern den Geburtstag einer Dichterin, die von den meisten Russen wegen ihrer unabdingbaren Kompromisslosigkeit geschätzt wird, und ich darf nicht einmal einen Menschen wegschicken, den ich nicht eingeladen habe und mit dem ich mich und die anderen sich nicht wohlfühlen. Die Stimmung ist verdorben – auf beiden Seiten.
Beim nächsten Wodka ein paar Tage später ist alles vergessen, wie immer, wenn es ein Problem gab. Alle toasten mir freundlich zu. Auch die Frau, die ich weggeschickt hatte, hebt das Glas in meine Richtung. Diese für mich ungewohnte Form der Konfliktbewältigung lasse ich in der »Leihbibliothek des Lebens« stehen. Ich werde mich damit bis zum Schluss fremd fühlen in Russland.
Elena Kamburowa, eine der Künstlerinnen, die mich bei der Organisation meiner Konzerte unterstützt hat, ist Anfang der Neunzigerjahre die beliebteste Sängerin Russlands. Auch in Lipowka kennt man sie aus dem Rundfunk und den zwei TV -Geräten, die es im Dorf gibt. Lena hat auf der Bühne die Intensität und Wirkung einer Edith Piaf, besitzt jedoch nach meinem Empfinden eine andere Ausdrucksvielfalt. Während Edith Piaf sterben muss, um zu singen, singt Kamburowa, um zu leben. Im realen Leben ist sie eine Frau von großer Güte und mitunter rührender Naivität. Auch sie hat sich ein Haus in Lipowka gekauft, in das sie jeden Sommer und zum Jahreswechsel kommt.
Eines Nachmittags sitze ich vor meinem Haus und trinke Tee, die Hunde liegen auf dem Weg, da sehe ich von Weitem etwas Großes, Schwankendes auf uns zukommen. Mein Blick schärft sich, und ich sehe Lena Kamburowa auf einem Fahrrad durch den tiefen Sand kurven. (Aufgrund des Sandes fährt niemand im Dorf Fahrrad.) Das Rad schlingert von links nach rechts, neigt sich mehrfach bedrohlich zur Seite, rutscht weg, doch Lena fängt es immer wieder ab, um dann erneut an Fahrt zu gewinnen. Sie fährt auf mein Haus zu und fällt plötzlich vor mir in den Sand.
Ich springe auf, um ihr zu Hilfe zu eilen. Sie ist schneller, rappelt sich hoch, schaut mich mit einem kindlich begeisterten Ausdruck an und sagt: »Ich lerne gerade Fahrradfahren. Nur bremsen kann ich nicht, aber man kann stattdessen umfallen, das geht auch.«
Wir trinken gemeinsam Tee, und als es Abend wird, hören wir den Hunden zu. Ich bedauere bis heute, dass ich nur die Gesänge der Babuschkas auf Band aufgenommen habe und nicht auch die Heulkonzerte der Hunde.
»Huuu«, »huuujjj«, »huhhhu« – jeder meiner Hunde bringt einen anderen Ton ein, um sich von dem abendlichen Geheul der anderen Hunde in Lipowka abzugrenzen. Bambino wirft sich als Heldentenor in die Brust, Felix improvisiert einen Chor in vielen Tonlagen, Laska heult wie ein Wolf, Wanja »schlürft« die Töne, Anton heult mit Vibrato, Husar heult ganz leise, Alma schweigt, Baba bringt ein paar heisere Zwischentöne ein und Milyi wälzt sich häufig begleitend dazu im Sand.
Wanjas Kopf auf meinem Rücken
Beinahe jeden Abend zünde ich ein Feuer im Hof an und auf zwei der Hunde scheint es immer dieselbe hypnotisierende Wirkung zu haben wie auf mich. Milyi und Baba starren dann zusammen mit mir in die Flammen. Wanja platziert, wenn ich bäuchlings liege, seinen Kopf auf meinem Rücken.
Laska liegt neben Wanja. Milyi hat sich neben mir auf den Rücken gerollt, blickt ins Feuer und lässt sich von mir den Bauch kraulen. Bambino dreht sich ebenfalls oft auf den Rücken und schmatzt. Die alte Baba liegt vor mir, besser gesagt fast unter mir, und starrt ebenfalls in die Flammen. Anton liegt in seiner Kuhle. Alma in ihrem Busch.
Felix ist nicht bei uns im Hof. Er hat eine wichtige Aufgabe. Er rettet gerade unser Leben, indem er auf dem Weg vor dem Haus rein prophylaktisch in die Nacht hinein bellt.
Husar, der sich zu anderen Tageszeiten immer bei uns aufhält, hat für den späten Abend erstaunlicherweise andere Pläne.
Husar und die innere Uhr
Husar beginnt sich trotz seiner innigen Liebe zu Anton nun auch für das zu interessieren, was die anderen tun. Nagt Bambino zum Beispiel einen Stock kaputt (eine seiner Lieblingsbeschäftigungen), stellt er sich vor
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