Wanja und die wilden Hunde
steckt, sondern ich nun auch den Osten Russlands noch zusätzlich in mir trage. Mir erscheint alles fremd. Die Reklame, der Überfluss, das Unnötige, die Leere hinter dem, was zu viel ist. Ich bin in Lipowka ein Mensch geworden, der Kleidung in Dreckstufe I, II und III unterscheidet, am liebsten barfuß läuft, gerne mit den Händen arbeitet, es liebt, mit einfachen Menschen zusammen zu sein, jedes Wetter genießt und ohne Hunde nicht leben kann.
Ich verberge mich hinter einer Kunstfigur. Sie passt zu allem, was sich unter diesen Umständen fremd fühlt in mir, weil sie das Fremdeste darstellt, was ich darstellen kann – eine Diva: Adriana Lubowa.
Diese Figur gibt mir nicht nur die Möglichkeit, in diese Fremde zu passen, sondern auch, nichts mehr zu fühlen. Sie und Deutschland werden meine Betäubung gegen den Schmerz der Abschiede.
»Deine Baba Pascha ist gestorben.«
Pascha, mit der ich viele Jahre täglich zusammensaß. Die ihre Hände auf meinen Knien ruhen hatte, die mich herumkommandierte, die mich gegen jede Moralvorstellung akzeptierte. Die mich umsorgte, wie ich sie. Meine späte, lang ersehnte Großmutter.
Fahrig suche ich eine Lücke, eine Möglichkeit, zurückzureisen und ihr Grab zu besuchen. Es gibt sie nicht neben all den bereits geschlossenen Verträgen und den Menschen, die gerade mit mir arbeiten und von dieser Arbeit leben.
Ein paar Monate später halte ich mich wegen eines Konzerts gerade in München auf, als mich der Anruf einer Berliner Freundin erreicht. »Bitte, dreh jetzt nicht durch. Vera hat angerufen.« Langes Schweigen.
»Ja, und?«, drängle ich ängstlich.
»Also, es war ein unglücklicher Umstand.«
»Was ist passiert, jetzt sag bitte.«
Meine Freundin stößt hörbar die Luft aus und fährt fort: »Wanja ist erschossen worden. Er ist dem betrunkenen Kolja begegnet, und als dieser ihn anpöbelte, hat er geknurrt. Kolja ist auf ihn losgegangen und hat ihn treten wollen. Wanja schnappte nach ihm, um sich zu verteidigen. Kolja hat daraufhin sein Gewehr geholt und ihn erschossen.«
Es ist ein Schock, der das, was von meinem Herzen noch fühlbar war, in einer einzigen Sekunde gefrieren lässt.
Danach bin ich nicht mehr Adriana Lubowa und nicht mehr Maike Maja Nowak. Im Innern lebe ich in einer Schattenwelt, über der eine schwarze Wolke schwebt. Ich rauche inzwischen sechzig Zigaretten am Tag. Das Ziehen und Inhalieren ist wie ein Ersatz für das Atmen geworden.
Frei atmen kann ich nicht mehr.
Ich fahre nie wieder in mein Dorf, nach Lipowka.
Vera, die noch lebenden Babuschkas, Anton, Husar, mein Haus, meine Habseligkeiten, sie alle fallen einer Schockstarre zum Opfer, die mich in den nächsten zwei Jahren gefangen halten wird. Die Abschiede von all den Wesen, die mir ein neues Leben gaben, scheine ich nicht verwinden zu können.
Völlig betäubt erarbeite ich ein neues Programm: »Razzia im Paradies«. Es wird genauso statisch bleiben, wie ich mich innerlich fühle. Während das erste, »Lieder kurz nach dem Glück«, ein seelenvolles Programm war, scheint dieses jetzt nur noch mithilfe der Außenhülle von Adriana Lubowa zu »funktionieren«. Das ist alles.
Konzert folgt auf Konzert. Meine Musiker, mein Manager, wissen nichts von meiner Verfassung. Ich kann sie nicht ins Vertrauen ziehen, weil nichts von dem, was ich in den letzten Jahren erlebt habe, ihnen vertraut sein kann. Und weil ich ihnen nie als ich selbst begegnete, sondern immer nur im Schutz einer Kunstfigur.
Nach zweieinhalb Jahren in Deutschland wache ich eines Morgens auf und kann nicht mehr aufstehen. Ich bin weder fähig meine Arme zu bewegen, noch meine Beine. Ich brauche eine Stunde, um an mein Telefon zu gelangen und den Notarzt zu rufen.
»Burn-out« lautet nach einem längeren Untersuchungsverfahren die Bezeichnung für meinen Zustand. Mir ist egal, wie man es nennt. Ich habe das Gefühl, in einer Wüste zu leben, ohne zu wissen, ob je wieder ein Grashalm nachwächst und wie er aussehen könnte.
Ich habe das Glück, eine gute Therapeutin kennenzulernen. Eine große Frau mit wildem grauem Haar, die für mich etwas von einer Erdenmutter hat. Bei ihr beginne ich eine Therapie. Sie bildet eine winzige Insel, auf der ich neu beginnen kann: zu stehen, zu leben, zu laufen und mich fortzubewegen.
Zeitgleich höre ich auf zu rauchen. Sechzig Zigaretten am Tag. Schluss, aus. Von jetzt auf gleich.
Ich ziehe in eine kleine Wohnung mit Gärtchen in Prenzlauer Berg und gebe nur zwei Menschen meine Adresse.
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