Wanja und die wilden Hunde
die Babuschkas in Lipowka.
Wir wollen gerade dorthin aufbrechen, da kommt eine Mutter mit einem Säugling auf dem Arm zu uns gerannt. »Schaut, schaut!«, ruft sie aufgeregt.
Wir können den Grund ihrer Aufregung erst erkennen, als sie vor uns steht. Immer wieder schiebt sie die Kuppe ihres kleinen Fingers in die winzige Tasche des deutschen Strampelanzuges, den ihr Baby jetzt trägt. »Schaut, eine Tasche. Für ein Baby!« Sie schreit es fast.
Während Jura das Sensationelle daran sofort zu begreifen scheint und vor Staunen den Mund öffnet, brauche ich ein wenig, um etwas für mich völlig Normales als ungewöhnlich einzuordnen. Ich hebe die Schultern. Jura bemerkt meine Ratlosigkeit. Er ruft einige Kinder heran, die auf dem Platz spielen. Er bittet sie, sich umzudrehen und mir ihre Rückseiten zu zeigen. Dann deutet er auf die Gesäßtaschen ihrer Hosen.
Sie sind aufgemalt. Stoff für Taschen zu verschwenden, wäre ein Luxus.
In Lipowka richte ich eine kleine »Apotheke« ein.
Baba Olga klopft, um sich ein Pflaster für einen Schnitt an ihrem Finger zu holen. Ich will ihr gleich eine ganze Packung mitgeben, damit sie das Pflaster wechseln kann, wenn es nass geworden ist. Sie jedoch winkt ab, entfernt sich schnell und ruft mir über die Schulter zu: »Ich komme lieber morgen wieder.« Ich wundere mich, warum sie den weiten Weg auf sich nehmen will, anstatt sich selbst mit Pflastern zu versorgen.
Am nächsten Tag klopft es wieder, und sie hält mir ihren Finger entgegen wie ein Kind. Während ich ein neues Pflaster anlege, spüre ich, dass Olga einfach die Zuwendung zu genießen scheint, die sie sonst – wie fast alle allein lebenden Bäuerinnen und Bauern – nicht bekommt. Ich hole eine Hautcreme.
»Wenn wir die Wunde eincremen, dann ist das noch besser«, sage ich. Sie überlässt mir ihre alten Hände, und ihre Augen schließen sich.
Eines Morgens fehlt Wasja, der Neue, der seit einem halben Jahr mit uns lebt.
Ich folge seinen Pfotenabdrücken im Schnee. Mitunter tauchen neben dem Weg Spuren auf, die nicht von Tieren stammen. Man kann so etwas wie einen menschlichen Fußabdruck erkennen und seltsam anmutende Wühllöcher daneben.
Im ersten Winter verwirrten mich diese Schneegebilde. Aufgeklärt wurde ich, als ich mit zwei deutschen Freundinnen, die ich vom Bahnhof in Sassowo abgeholt hatte, mit Juri und seinem Jeep in Lipowka einfuhr. Juri bremste so plötzlich, dass wir alle nach vorn geschleudert wurden. Ein alter Mann lag mitten auf dem Weg. Die zwei Freundinnen, die noch nie in Russland gewesen waren, sahen entsetzt auf den fast zugeschneiten Menschen. Ihre Blicke verrieten ihre Befürchtung, es mit einer Leiche zu tun zu haben.
»Komm Bruder, du erfrierst. Aufstehen!«, rief Juri.
Der alte Bauer schlug um sich, wehrte sich dagegen, dass Juri ihn unterstützend unterfasste, und drehte sich auf die Seite. Er versuchte sich mit den Armen aufzustützen, sackte jedoch immer wieder zusammen. Dann begann er, sich zuerst mit den Beinen hochzustemmen, wobei sein Kopf im Schnee versank. So entstand ein »Wühlloch« neben seinen Fußabdrücken. Schließlich half Juri ihm doch noch hoch, und der Alte torkelte bedenklich schwankend davon.
»Liegen hier noch mehr auf dem Weg?«, fragte eine der deutschen Freundinnen, und ich sah ihr an, dass sie für ihren Besuch in Lipowka mit dem Schlimmsten rechnete.
Ich verliere Wasjas Spur (wenn es überhaupt seine gewesen ist) nach etwa fünfhundert Metern.
Vier Tage vergehen, ohne dass ich den Hund finde.
Am fünften Tag berichtet Bauer Petja von einem hellbraunen Hund, der tot und von anderen Tieren angefressen in einer Falle gefunden wurde. Ich gehe nicht nachschauen. Ich könnte den Anblick nicht ertragen und würde ihn nie mehr vergessen.
Was ich zum damaligen Zeitpunkt nicht weiß, ist, dass die Vorstellung von etwas sehr viel nachdrücklicher in der eigenen Fantasie leben kann als ein realer Anblick. Lange kämpfe ich darum, dass sich meine Vorstellung davon, wie sein Ende gewesen ist, nicht über die Bilder schiebt, die ich von ihm als gesundem und lebendigem Hund in mir trage.
Wasja hat nur kurz bei uns gelebt, aber er hinterließ mit seiner Ruhe, seiner Freundlichkeit und Lebensfreude einen bleibenden Eindruck.
Während ich für zwei Wochen zu Konzerten nach Moskau reise, zieht Vera bei mir ein, um für die Hunde zu sorgen. Ich weise sie noch einmal nachdrücklich darauf hin, dass sie während meiner Abwesenheit niemanden im Dorf mit Medikamenten
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