Wanja und die wilden Hunde
ihn einfach mögen muss, macht mir die Ungewissheit um seinen Aufenthaltsort lange zu schaffen und natürlich fehlt er mir sehr.
All die Abschiede erfüllen mich mit Trauer und lassen wenig Raum für andere Gefühle.
Ich rücke noch enger mit Wanja, Anton und Husar zusammen. Da Anton und Husar sich weigern, in die warme Stube zu kommen, sitze ich oft dick eingemummelt mit ihnen in der Sonne vor dem Haus.
Im Gegensatz zu den mir bekannten trüben Berliner Wintern scheint hier fast jeden Tag die Sonne – außer wenn es schneit. Das Glitzern über dem blütenweißen, unberührten Schnee ist wie der Glanz, der ein langes Fest überstrahlt.
Ich liebe die Winter in Lipowka.
Sie sind einzigartig. Still. Friedlich.
Sie reinigen die Seele. Solange man nicht trauert – oder wenn man anders trauern kann als ich.
Auch für Pascha scheinen der Winter und die lange Einsamkeit eine harte Geduldsprobe zu sein, obwohl ich mich bemühe, täglich bei ihr vorbeizuschauen. Ihre Nachbarn, das Ehepaar Anton und Tasja, sprechen mich an.
»Maja, kannst du nicht einmal mit ihr reden? Wir sind wirklich gute Nachbarn. Wir kochen im Winter oft für Pascha mit, und Anton bringt ihr das Feuerholz herein. Aber jetzt klopft sie mitten in der Nacht, und der von uns, der ihr aufmacht, muss mit auf ihren Ofen«, sagt Tasja.
»Auf ihren Ofen?«, frage ich, die Dimension dieser Aussage nicht ganz erfassend.
Wanja, Maja, Anton, Husar und Wasja im Winter
»Na so …«, erwidert Tasja und zieht mich am Ärmel. »Los, komm mit rüber. Schließlich seid ihr zu zweit, und ich bin allein«, imitiert sie den Kommandoton von Pascha.
»Wie, und du gehst dann mit auf ihren Ofen?«, frage ich Tasja ungläubig.
»Ja, man kann ja nicht Nein sagen zu ihr«, antwortet Anton vorwurfsvoll. »Kannst du nicht mal nachts bei ihr schlafen?«, fügt er dann bittend hinzu.
Ich schaue auf die beiden über 70-Jährigen und weiß nicht, ob ich die Hände über dem Kopf zusammenschlagen oder lachen soll. Die Vorstellung, wie Pascha sich nachts Gesellschaft organisiert, ist einfach zu komisch. Bei dem Gedanken daran, dass ich nun auf Paschas Ofen nächtigen soll, bleibt mir das Lachen jedoch im Hals stecken.
Ich muss dringend mit Pascha sprechen.
Kälte
Die Angst, Wanja und die beiden anderen Hunde zu verlieren, ist für mich so unerträglich, dass irgendetwas in mir nicht nur diese Furcht, sondern auch die Hunde selbst aus meinem Gefühlsleben zu drängen scheint. Ich will Abstand zu meiner Angst gewinnen und gehe für eine Fünf-Wochen-Produktion nach Deutschland.
Ich trete unter einem Künstlernamen in der »Bar jeder Vernunft« in Berlin auf. Neben Presse-, Rundfunk- und TV -Terminen gibt es zwei Anfragen für Dokumentarfilme über mein (künstlerisches) Leben. Im Winter 1997 begleiten mich beide Filmteams unabhängig voneinander in meine Geburtsstadt Leipzig, zu Konzerten nach Moskau und nach Lipowka. (Das Team um den Regisseur Bernd Reufels dreht auch im Mai 1998 noch einmal in Lipowka.)
Wanja hat einige Probleme, die fremden Männer in meinem Haus zu dulden, kommt damit jedoch klar, solange sie ihn ignorieren und mir nicht zu nahe kommen. Anton und Husar weichen dem Trubel aus und kommen erst nach dem Dreh von meinem Nachbarn Wasja zurück.
Ich fahre zwei Monate nach den Dreharbeiten wieder nach Berlin, um weitere Konzerte zu geben, deren Verträge sich aus dem Gastspiel in der »Bar jeder Vernunft« entwickelt haben.
Während in Lipowka die wenigen Begegnungen mit Menschen und Tieren Raum in mir finden, hat meine Seele in Deutschland eine Möglichkeit gefunden, um der dortigen Reizüberflutung zu entgehen: Sie hält die Luft an. Schaufensterauslagen, Verkehr, Menschenmassen, angeleinte Hunde, Grünanlagen, die unberührte Natur ersetzen sollen, Häusermeere, hundert Joghurtsorten – ich atme nichts davon ein, ich nehme es nur wahr. Dadurch habe ich das Gefühl, unter einer Glocke zu leben. Ein angenehmer, aber lebloser Zustand.
Vera ruft mich an. Ihre Stimme klingt bereits bei der Begrüßung bedrückt und traurig. »Deine Baba Pascha ist gestorben«, sagt sie beinahe im Flüsterton.
Ich fühle mich plötzlich wie der Junge Kai im Märchen Die Schneekönigin . Während Kais Herz jedoch durch den Kuss der Schneekönig langsam zu Eis gefriert, »küssen« mich all die Abschiede.
Nach meinem frühen Weggang 1991 lerne ich nun mit einiger Verspätung den Westen kennen – zu einem Zeitpunkt, in dem nicht nur das ostdeutsche Lebensgefühl in mir
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