Wanja und die wilden Hunde
freundliches »Baby« zum Vorschein, dem in den letzten Jahren jede unbeschwerte Entwicklung verwehrt worden war. Dass es nur ganze zehn Minuten brauchte, ihm das Ziehen an der Leine abzugewöhnen, machte uns alle eher betroffen als froh. Wir zeigten ihm einfach, wo er NICHT laufen soll, nämlich nicht zu weit vorne, nicht zu weit von der Seite weg und nicht zu weit hinten.
Es ist uns gelungen, weil wir es ihm in einer Art vermittelten, die seine eigene war. Wir erklärten die oben beschriebenen Räume zum Tabu, in dem wir ihn mit einem Geräusch warnten, sobald er sie betreten wollte, und mit einer Handlung davon abhielten, wenn er sie dennoch betrat – bei ihm reichte es, sich dafür ganz kurz in den Weg zu stellen. Das führte dazu, dass er sich nur noch dort aufhielt, wo NICHTS passierte, nämlich neben seinem Menschen.
Führung
»Der Hund braucht Führung«, lautet eine Aussage, die gerade in der letzten Zeit wieder verstärkt zu hören ist. Im Prinzip ist dies eine wunderbare Einsicht, wenn damit nicht gemeint wäre, was WIR unter Führung verstehen:
• Grundgehorsam (»Sitz«/»Platz«/»Bleib«)
• Bestechung (Leckerli, Spielzeug)
• Ablenkung (Leckerli, Spielzeug, »Schau«)
• Zwang (Halti, Zughalsband)
• Gewalt (Würger, Stachel- und Elektrohalsbänder).
Schauen wir uns doch einmal die Gründe dafür an, warum ein bestimmter Hund ein Rudel führt:
• weil er in den meisten Situationen souverän und ruhig bleibt
• weil er klare, unmissverständliche Signale sendet
• weil er Lösungen findet, die eine Situation verbessern
• weil er Gefahrensituationen rechtzeitig erkennt
• weil er sinnvolle Entscheidungen trifft
• weil er die meisten Entscheidungen durchsetzt
• weil er so wenig wie möglich dafür tun muss.
Wie oft sind wir enttäuscht, wenn unser Hund nicht auf uns hört, weil wir meinen, er müsse es schon alleine deshalb tun, weil wir ihn versorgen, ihm ein Zuhause geben und unser Herz schenken. Doch was von dem, was unter Hunden von einem Anführer erwartet wird, können wir selbst ihm bieten?
Wie erziehen wir Hunde?
Wir sagen zum Beispiel »Sitz«, um von einem Hund Respekt einzufordern, ihn auf uns aufmerksam zu machen oder ihn von etwas anderem abzuhalten – nicht aber, weil genau diese Körperhaltung gerade nötig wäre. Sie dient nur als Mittel zum Zweck. Es gibt nicht eine sinnvolle Begründung dafür, warum ein Hund das Kunststück »Sitz« aufführen sollte (eine Ausnahme bilden natürlich Hunde, die eine bestimmte Aufgabe erfüllen wie Blindenhunde, Begleithunde, Therapiehunde usw.), sonst hätte die Natur sicher auch einer Hundemama und einem Leithund diese Vokabel zur Verfügung gestellt. Diese lösen all jene Situationen, die wir mit »Sitz« zu bewältigen versuchen, auf völlig andere Weise.
Für uns scheint es sehr schwer zu sein, dem Hund situativ mitzuteilen, was wir von ihm möchten. Wir hoffen daher, dass wir ein bestimmtes Verhalten über Umwege erreichen. Wenn ein Hund zu weit vorläuft, wird er zurückgerufen. Ihm wird dadurch jedoch weder mitgeteilt, dass er nicht so weit vorlaufen, noch dass er auch nach seinem Kommen im engeren Radius bei uns bleiben soll. Der Hund wurde ja nur gerufen – nicht gestoppt. Er wird also nach seinem Kommen wieder vorlaufen und somit alles richtig machen.
Das Training mit einem leinenaggressiven Hund sieht häufig so aus, dass mithilfe einer Konditionierung wie »Bei Fuß« oder »Schau«, einem hingehaltenen Leckerchen oder einem Halti versucht wird, von einer aggressiven Reaktion auf einen anderen Hund abzulenken. Es werden auch Rappeldosen, kleine Schellen oder Wurfketten verwendet, um das Verhalten des Hundes durch Erschrecken zu unterbrechen.
Durch keine der oben genannten Methoden wird der Hund darüber informiert, dass auch der nächste vorbeilaufende Hund in Ruhe gelassen werden soll, weil der Halter keine Einmischung in seine Führung wünscht.
Wanja, der mehrfach am Tag unser zehnköpfiges Hunderudel durch das Dorf führte, löste eine solche Situation auf folgende Weise: Provozierte ein Hund aus unserem Rudel eine Auseinandersetzung mit einem Dorfhund, warnte Wanja ihn umgehend und beendete, wenn die Warnung nicht ausreichte, dessen Verhalten energisch. Eine Auseinandersetzung mit bestimmten Hunden hätte eine Gefahr für die ganze Gruppe bedeutet, daher unterband er sie. Wanja konnte dabei jedoch genau unterscheiden, bei welchen Dorfhunden er eingreifen musste und bei welchen Hunden er zum
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