Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war: Roman. Alle Toten fliegen hoch, Teil 2 (German Edition)
mag diese ganzen Kinder so gerne. Ich mag das so gerne, wie die sind, so wild und lebendig. Wenn die sich freuen, dann freuen sie sich, und wenn sie schreien, dann schreien sie halt.« Er sah mich kurz liebevoll an und nickte mir zu. »Nicht wahr. Ich denk da viel drüber nach, warum ich mich unter den angeblich nicht Normalen immer so viel wohler gefühlt habe als unter den angeblich Gesunden. Dieses ganze Getue und Gehabe, dieses Geschwätz. Klar ist das auch Quatsch, sich das schönzureden. Deine Mutter hat da furchtbar drunter gelitten. Nie Besuch, keine Reisen, keine Freunde. Aber ich konnte das nicht anders. Ich werde nie wieder arbeiten. Das ist so, so hart für mich. Aber ich kann einfach nicht mehr den ganzen Tag auf dem riesigen Gelände unterwegs sein. Ich schäme mich auch vor den Ärzten. Ein kranker Arzt, das geht irgendwie nicht. In dieser Winzstadt wissen das doch alle. Wer schickt seine Kinder zu einem kranken Arzt?«
Er sah mich fragend an. Ich zuckte die Schulter. »Das Bein tut so scheußlich weh. Vielleicht lass ich es doch noch mal operieren. Die langen Autofahrten von Lübeck nach Schleswig. Alles zu viel. Weißt du, die Frau in Lübeck … wie das klingt, die Frau in Lübeck: Karin heißt die. Die ist viel jünger als ich. Im Zug haben wir uns kennengelernt. Ach, das willst du doch alles gar nicht wissen. Und deine Mutter alleine in diesem Scheiß-Italien. Was will die denn da? Das ist doch alles Quatsch.«
Er seufzte, aber es klang eher erstaunt als verzweifelt: »Was ist das nur alles für ein Wahnsinn, mein Lieber? Da denkt man, im Alter wird das irgendwie besser – Liebeskummer, Sehnsucht –, alles Quatsch. Hab ich neulich gelesen. Da die Männer früher sterben als die Frauen oder im Krieg gefallen sind, sind die Mangelware in den Altenheimen. Die Omis kratzen sich gegenseitig die Augen aus vor Eifersucht. Ach, das hätte mir gefallen. So ein umkämpfter, rüstiger Rentner zu sein. Die Krankheit, die ich hab, das wird schlimm werden, da mach ich mir nichts vor, dafür kenn ich mich zu gut mit so was aus.« Er streckte sich, klackerte mit dem Lolli. »Dabei hab ich nicht ein einziges Loch in den Zähnen, über sechzig und keine einzige Füllung.«
Ich lag auf dem Bett meiner Mutter. Robbte näher an ihn heran und umarmte ihn. Er zog seine Bettdecke hoch und breitete sie über mich. »Mein lieber Josse. Wirklich so schön, dass du da bist.« »Was liest du?« »Ach, Gedichte. Das war immer in meinem Leben so. Wenn es mir schlecht geht, lese ich Gedichte. Da hat man so viel im Kopf und sucht nach geballten Antworten.« »Hast du da was angestrichen?« »Ja, von Benn. Den mag ich. Benn und Goethe.« »Also mit Goethe kann ich überhaupt nichts anfangen«, behauptete ich, obwohl dieses harte Urteil einer tatsächlichen Beschäftigung mit Goethe völlig entbehrte. »Warte nur, Goethe wird dir schon noch begegnen. Das ist auch eher was fürs Alter. Obwohl, lies mal Werther, ich glaube, das könnte dir gefallen. Hör mal, das ist doch toll.« Er las mir das ganze Gedicht vor. Ohne große Betonungen, fast monoton, aber mit einem für jedes Wort empfänglichen Klang:
Wer allein ist, ist auch im Geheimnis.
Immer steht er in der Bilder Flut
ihrer Zeugung, ihrer Keimnis,
selbst die Schatten tragen ihre Glut.
Trächtig ist er jeder Schichtung,
denkerisch erfüllt und aufgespart,
mächtig ist er der Vernichtung,
allem Menschlichen, das nährt und paart.
Ohne Rührung sieht er, wie die Erde
eine andere ward, als ihm begann,
nicht mehr Stirb und nicht mehr Werde:
formstill sieht ihn die Vollendung an.
»Was für ein toller Dichter, oder? Und Arzt. Und ein Schwein war er auch. Weißt du, was der mal gesagt hat? Gute Regie ist besser als Treue! Nicht schlecht, so ein Satz. Nur wie? Ach ja … So, mein Lieber, ich mach jetzt mal Licht aus.«
Ich kroch unter der Vaterdecke hervor, küsste ihn auf seine Glatze und ging in mein sich langsam wieder an mich gewöhnendes Kinderzimmer.
Zwei Tage blieb ich noch bei ihm. Organisierte ihm Margret als Köchin, die schwungvoll wie eine ganze Glücksarmee ins Haus einfiel. Sie schien überhaupt nicht älter geworden zu sein: »Menschwiesiehtsdennhierausherrprofessorheutegibteshackbratenmitsalatichglaubichwerdnichtmehr!!!«
Theorie und Praxis
Bei meinem nächsten Besuch öffnete mir Ferdinand die Tür. Ich war überrascht. »He, Ferdinand, was machst du denn hier!« »He Ferdinand, was machst du denn hier? Ich leiste deinem Vater ein wenig
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