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Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war: Roman. Alle Toten fliegen hoch, Teil 2 (German Edition)

Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war: Roman. Alle Toten fliegen hoch, Teil 2 (German Edition)

Titel: Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war: Roman. Alle Toten fliegen hoch, Teil 2 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joachim Meyerhoff
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zu verrücken, wieder aufstehen konnte. Hatte er gegessen, erhob er sich, den letzten Bissen noch kauend, und ging zurück in seinen Sessel.
    Aufstehen und gehen, selbst bei Einladungen, war für meinen Vater ein Grundrecht, eine Art Menschenrecht. Wobei er so gut wie nie Einladungen annahm. Er war auf so selbstverständliche Art und Weise ungesellig, dass man, wenn man ihn so in seinem Sessel lesen sah, gar nicht auf die Idee kam, ihn irgendwohin mitzunehmen. Und wenn er wegging, dann am liebsten allein, ohne seine Familie. Ein Mal die Woche in den Rotary Club, immer montags. Ansonsten thronte er in seinem Sessel. Gespielt hat er nie mit uns, aber unterhalten hat er sich immer gerne, begeistert von den Dingen berichtet, die er las. Und er ging gerne spazieren. Wenn ihn ein Thema ergriff, blieb er plötzlich stehen, so als ob er ab einem bestimmten Grad der Involviertheit nicht gleichzeitig gehen und sich unterhalten könne. Das habe ich immer sehr gemocht, diese Spaziergangspausen. Da stand man da. Am Meer, im Wald, auf einem Feldweg, irgendwo, und unterhielt sich.
    Ich habe nie wieder jemanden getroffen, der so wahllos hochgebildet war wie mein Vater. Er konnte sich für die Deutsche Hitparade genauso begeistern wie für die Kindertotenlieder von Gustav Mahler. Er studierte die täglichen Werbeprospekte mit derselben innigen Begeisterung wie Hölderlin-Gedichte. Nichts war ihm zu entlegen, dass es nicht wert gewesen wäre, es zu wissen. Sosehr ich ihn auch für sein Wissen bewunderte, so sehr hat mich dieses im Sessel sitzende Vaterlexikon oft zur Weißglut gebracht.
    Als ich nach einer vierwöchigen Reise aus der Türkei zurückkam – da war ich schon wesentlich älter –, hatte mein Vater vier Wochen lang alles über die Türkei gelesen. Keine Stadt, in der ich war, die er nicht kannte. Keine Sehenswürdigkeit, über die er nicht viel mehr wusste als ich. Ich sagte: »Und dann waren wir in Kaisery, und stell dir vor, da gab es eine Straße, in der nur Teppichhändler waren.« »Ja, Kaisery«, sagte mein Vater, »ist ja auch ein jahrhundertealtes Zentrum der Teppichknüpfkunst. Habt ihr euch denn die weltberühmten Teppichknüpfereien angesehen? Sie befinden sich etwas außerhalb der Stadt. Dort liegen auf einer riesigen Fläche Teppiche unter freiem Himmel. Weil die Farben – die Färbereien kann man übrigens nach telefonischer Voranmeldung auch besuchen –, weil die Farben unmittelbar nach dem Färben so grell sind, dass die Teppiche erst in der prallen Sonne, unter dem Einfluss der sehr starken anatolischen Sonnenstrahlen, ihren berühmten matten Glanz erhalten.« Irgendwann hatte ich dann das Gefühl, nie in der Türkei gewesen zu sein. Oder höchstens wie ein ungebildeter Trottel an allem auch nur annähernd Interessantem vorbeigestolpert zu sein. »Was!«, rief mein Vater entrüstet, »ihr wart in Sivas und habt euch nicht den nur zehn Kilometer entfernten weltberühmten Süßwassersee namens Eber Gölü angesehen? Zu dem pilgern Ornithologen aus der ganzen Welt, um Tausende von Flamingos zu beobachten.« Ich hatte noch nie von diesem See gehört, erinnerte mich dann aber tatsächlich, in Sivas Heerscharen von Menschen mit riesigen Teleobjektiven gesehen zu haben. Der Höhepunkt solcher feindlichen Übernahmen bestand darin, dass ich rief: »Ja, aber ich war wenigstens da!« Mein Vater legte triumphierend seine Hand auf den Stapel mit den Büchern über die Türkei und antwortete: »Ich auch!«
    Er selbst war so gut wie nirgends gewesen. Weder in Italien noch in Frankreich, weder in London noch in Madrid. Mit einem Freund in Weimar, das war es. Davon zehrte er jahrelang, und ich bin mir sicher, dass Sir Hillary auf dem Gipfel des Mount Everest nicht ansatzweise so stolz aussah wie mein Vater auf dem Foto, das ihn vor Goethes Gartenhäuschen zeigt. Nur ein einziges Mal ist meine Familie gemeinsam in den Urlaub gefahren. Nach Schweden. Mein Vater fuhr in Stockholm versehentlich in die belebte Fußgängerzone. Erzürnte Schweden schlugen auf unser Autodach. Da ist er ausgestiegen und in der Menge verschwunden. Später haben wir ihn in einer Buchhandlung gefunden, und das Einzige, was er gesagt hat, war: »Guckt mal, die haben hier deutsche Zeitungen.«
    Dann ergriff ihn ein völlig neues Thema mit bis dato unbekannter Macht. Es hatte mit einer kleinen Broschüre über den historischen Walfang der Nordfriesen begonnen, weitete sich aus zu historischem Schiffbau und mündete fulminant in einer wahren Flut

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