Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war: Roman. Alle Toten fliegen hoch, Teil 2 (German Edition)
beide, und der Hund durfte auf das leer geräumte Lehrerpult springen. Neugierig umringten alle den nun über unsere Köpfe hinweg hechelnden Hund. Der Lehrer kniff mit Daumen und Zeigefinger zwischen zwei Hundezehen und rief erstaunt: »Das gibt’s ja nicht!« Er befahl, eine ordentliche Reihe zu bilden, und einer nach dem anderen durfte unserem an Langmut kaum zu überbietenden Landseer die Schwimmhäute drücken.
Wenn wir mit ihm an die Ostsee fuhren und auf der zum Parkplatz umfunktionierten Wiese parkten, hielt er es kaum noch auf der Rückbank aus. Sobald die Tür aufging, quetschte er sich ins Freie, rannte zum Meer und sprang hundekopfüber hinein, tauchte ab und wieder auf – von unbeholfenem Hundegepaddel keine Spur. Eher wie ein Delfin pflügte er durch die blau gekräuselte Wasseroberfläche. Kaum hatte ich meine Badehose an und die Taucherbrille übergezogen, eilte ich ihm nach. Wir schwammen gemeinsam rüber zur ersten Sandbank, und wenn ich tauchte, sah ich diesen großen Hund, dessen Schlappohren wie Flossen von seinem Kopf abstanden und der mich unter Wasser ansah und breit zu grinsen schien.
Obwohl es der Hund meines mittleren Bruder war, obwohl er derjenige gewesen war, der bei den Züchtern in der Nähe Hamburgs eine ganze Woche verbracht hatte, obwohl er es war, der dem eigentlich adeligen Hund, einem B-Wurf, den Namen Biggi von den Ziegelteichen gegeben hatte – genannt wurde er allerdings Aika –, und obwohl er mit diesem Hund zu Wettkämpfen fuhr und dem phlegmatischen Tier mit lächerlichen Kommandos den Tag verleidete – der Hund musste auf den Zuruf »Bleck!« die Lefzen hochziehen – war ich derjenige, der ihn über alles liebte und ununterbrochen um seine Nähe buhlte. Ich fütterte ihn heimlich mit Wurst, klaubte ihm mit Engelsgeduld die Kletten aus dem buschigen Schwanz, und es war mir egal, wenn ich von oben bis unten mit Hundehaaren überzogen war. Ich wollte diesem Hund nah sein – so nah wie möglich.
Und dann sah ich etwas im Fernsehen, das mich erschütterte, mich nicht mehr losließ. Ich sah, wie sich Winnetou und Old Shatterhand, auf einem weißen Felsen stehend, in den Unterarm schnitten und ihre blutenden Wunden aufeinander banden. Das wollte ich auch. So einen Blutsbruder wollte ich auch. Ich wollte Hundeblut in meinen Adern.
Im Schlafzimmer meiner Eltern befand sich an der Wand hinter der Zimmertür unser vollgestopfter Medizinschrank. Dieser war aus Sicherheitsgründen sehr hoch montiert worden und, als wir noch kleiner waren, immer verschlossen. Wenn ich auf einen Stuhl stieg, konnte ich ihn mittlerweile gut erreichen. Ich liebte diesen Schrank, den Arznei-Geruch, und entwickelte ein immer größeres Interesse an ihm. Verbandszeug, dickflüssige Säfte, Zäpfchen, Ampullen, Fläschchen und Tabletten, Tabletten, Tabletten. Die Beipackzettel der Medikamente waren ein Lesestoff, den ich sogar aus freien Stücken las. Außerdem mochte ich, dass sie wie Geheimbotschaften klein und gekonnt zusammengefaltet waren. Von den langen Listen der Nebenwirkungen war ich angenehm erschüttert und auch die vielen Fachbegriffe, deren Bedeutungen mir unbekannt waren, beeindruckten mich, ich sprach sie gerne laut aus.
In diesem Schrank lagen auch mehrere einzeln verpackte Skalpelle. Ich nahm eines heraus und entfernte die durchsichtige Hülle. Zur Wunddesinfektion nahm ich das mir wohlbekannte Fläschchen Kutasept-Orange, eine jodfarbene Tinktur, die mein Vater gerne auch auf kleinste Wunden sprühte.
Niemand war da. Ich lockte den Hund mit einem Frolik in den Keller, zog aus einem der nie mehr wieder benutzten Laufschuhe meines Vaters den Schnürsenkel heraus, kniete mich vor den Hund und sagte: »Gib Pfötchen!« Ich wollte ihn nur ganz leicht ritzen, aber als die Klinge die Pfote berührte, zuckte er zurück, und ich schnitt erschrocken hinein, schnitt ihm mit dem Skalpell tief in den weichen Pfotenballen. Der Hund wusste gar nicht, wie ihm geschah, leckte panisch seine rosa klaffende Wunde. Nun war ich an der Reihe. Mehrmals hatte ich am Morgen eines unserer Küchenmesser probehalber über meinen Handballen gleiten lassen. Es war stumpf wie alle Messer in unserem Haushalt. Ich setzte das Skalpell an und zog es entschlossen über die Haut. Ich spürte nichts. Aber da schoss es rot aus dem Schnitt heraus. Ich zerrte den besorgt dreinschauenden Hund nah an mich heran, presste meine Wunde auf seine und versuchte, Pfoten- und Handballen mit dem Turnschuhschnürsenkel
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