War da noch was - Roman
in dieser Stadt an der Tagesordnung. Sie bekreuzigte sich und sprach ein stilles Gebet. Dann wandte sie sich um und führte uns einen Flur entlang.
Wir folgten ihr mit hallenden Schritten über den steinernen Gang, der auf beiden Seiten von weit offen stehenden Türen gesäumt war. In den Räumen standen Reihe um Reihe von Kinderbetten mit winzigen Babys, dann ein Raum voller älterer Kinder, die in einer freundlicheren Zeit wohl bald in die Schule oder den Kindergarten gekommen wären, die hier aber ebenfalls in Betten saßen. Sie verfolgten uns mit stumpfen Blicken, als wir vorübergingen. In einem kleineren Zimmer schliefen ein paar Neugeborene in provisorischen Bettchen – aus Kommodenschubladen, wie ich feststellte. Man sagte mir, der Junge, nach dem ich suchte, sei darunter. Der dort ganz am Ende mit den dunklen Haaren, der fest in seine Decke gewickelt war.
Eine andere Schwester erschien, älter, kein Englisch, im blauen Habit, mit einem riesigen Schlüsselbund am Gürtel. Wir hatten der ersten Nonne nicht alles erzählt, weil wir fürchteten, nicht eingelassen zu werden, aber
ihr machten wir nun mithilfe von Bretts minimalen Kroatisch-Kenntnissen klar, warum wir hier waren. Sie war misstrauisch und zweiflerisch. Viele Menschen aus dem Ausland wollten diese Kinder haben: Paare aus Florida schickten Vermittler, die mit Geldscheinen herumwedelten, vor allem die ganz kleinen Babys waren begehrt. Sie mussten sehr vorsichtig sein. Nein, es war nicht möglich. Sie verschwand und man geleitete uns nach draußen.
In der folgenden Woche waren wir wieder da, diesmal mit dem ganzen Gewicht der UN und ihrer Hilfsorganisation hinter uns. Die gleiche Schwester erschien, und in ebenso kurzer Zeit, in der sie uns beim letzten Mal abgewiesen hatte, erteilte sie diesmal ihre Zustimmung. Das Außenministerium war, wie sich herausstellte, bereits an sie herangetreten. Man hatte Papiere verschickt, Erlaubnisse erteilt, auf wundersame Weise bürokratische Hürden aus dem Weg geräumt. Zu dieser Zeit, im Chaos des Bürgerkrieges im früheren Jugoslawien, konnte man mit Geld, Beziehungen und Papieren alles erreichen, und ich verfügte über alles drei. Ich wurde offiziell als Adoptivmutter benannt und Seffen – so hätte Ibby, wie ich wusste, einen Jungen genannt – verließ in meinen Armen das Waisenhaus. Drei Wochen später kehrten wir nach England zurück.
Ich war fast acht Monate in Bosnien oder Kroatien oder der Herzegowina gewesen oder wie immer man diese Balkanländer nennen wollte, je nachdem, welchen Glauben, Kultur und Hintergrund man hatte, und das war ja anscheinend der Grund für diesen ganzen Aufstand. Ich hatte aus erster Hand die Schrecken des Lebens in einem Kriegsgebiet erfahren: Ich hatte bei Menschen gelebt, die um ihr Leben gefürchtet und es verloren hatten und manchmal hatte ich selbst um das meine gebangt.
Ich hatte gesehen, was der Hass anrichten kann in einem so schönen Land, das von den Menschen, die dort lebten, selbst zugrunde gerichtet worden war; aber ich hatte auch so viel Liebe und Freundlichkeit verspürt wie, glaube ich, seither nie mehr in meinem Leben. Ich erlebte Entsetzen, aber zugleich auch Menschlichkeit. Kit, da bin ich mir sicher, erlebte noch viel mehr. Er kam erst im folgenden Jahr, 1995, als der Krieg beendet war, nach England zurück. Er hatte zuletzt bei einer Hilfsstation in Sarajevo gearbeitet zusammen mit einem italienischen Militärpfarrer. Sie gerieten dort regelmäßig unter Beschuss. Er hatte Glück und kam mit dem Leben davon. Brett hatte weniger Glück. Zehn Tage nach meiner Abfahrt wurde er bei einem Transport nach Bechistanova getötet, sein Lastwagen wurde von einer Granate getroffen und ging in Flammen auf. Pablo, Gabi und die anderen überlebten, allerdings habe ich nie wieder von ihnen gehört.
Als er nach Hause zurückkam, gab Kit, der in Sarajevo unter dem Schirm der katholischen Kirche gearbeitet hatte, seinen Studienplatz in Durham auf, wo er BWL studieren wollte. Stattdessen schrieb er sich im Wycliffe Hall Bible College in Oxford ein, um Theologie zu studieren. Danach wurde er Pfarrer. Er kam vom Balkan zurück mit Gott, ich kam zurück mit einem Baby. Das war sozusagen unsere Kriegsbeute.
10
F ünfzehn Jahre später stand ich, an die warme Kühlerhaube meines Wagens gelehnt, vor dem Bahnhof in Thame und wartete, dass Seffen zusammen mit Lauras Töchtern Biba und Daisy herauskam, und mir wurde bewusst, dass alles in allem die Jahre gut zu uns gewesen
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