War da noch was - Roman
ihre Grenzen austesten. Und die Regeln an seiner alten Londoner Schule waren
so kleinlich und lächerlich gewesen, die forderten es ja geradezu heraus, dass man sie brach. Er hatte sich also ein bisschen Ärger eingehandelt, was ganz untypisch für ihn war. Wie der Direktor damals betont hatte, passte es gar nicht zu ihm, aber er war wohl einem schlechten Beispiel gefolgt. Nichts wirklich Schlimmes, ein paar Zigaretten im Park, eine Flasche Wein … aber es schien so, als würde er gegen irgendetwas aufbegehren. Und so hatte ich ihn nach Lightbrook geschickt, ein Internat auf dem Land – ein großer finanzieller Kraftakt – aber es war das, was Seffy wollte. Er hatte darum gebeten, dorthin gehen zu dürfen. Hatte darauf bestanden. Tja, vermutlich war es doch recht still für ihn gewesen zu Hause, nur mit mir, ohne weitere Geschwister. Anscheinend ging es ihm dort sehr gut. Er war ein bisschen ruhiger geworden, hatte wieder angefangen zu lernen, was er an der Schule in London nicht mehr getan hatte, dort hatte er jedes Interesse daran verloren gehabt. Dabei war er ein schlauer Junge, und er würde das wieder aufholen. Eine Weile war er nicht sehr oft nach Hause gekommen, auch wenn er es an den Wochenenden gekonnt hätte, was schmerzlich für mich gewesen war. Und wenn er nach Hause kam, dann war er viel distanzierter. Aber das waren sie alle, versicherte mir Laura. Biba war genauso. Sie entwickeln sich, das heißt, sie bewegen sich von uns fort. Aber Seffy und ich … nun ja, wir sind ja immer nur zu zweit gewesen und waren uns so nahe.
Ich gab mir einen kleinen inneren Ruck. Das war letztes Jahr gewesen. Dieses Jahr, die vergangenen paar Monate, war es besser geworden. Er hatte mich öfter angerufen, war gesprächiger gewesen, und seine Noten gingen konstant nach oben, hoffentlich noch rechtzeitig bis zu den Prüfungen für die mittlere Reife.
»Was macht das Theaterstück?«, fragte ich ihn im Rückspiegel. War es nur Einbildung oder war da jetzt immer ein etwas zurückhaltender Blick, nur ganz kurz, bevor er mir antwortete?
»Dem geht’s gut, wir kommen voran. Wir haben noch viel vor uns, aber die Proben sind in Ordnung.«
»Was für ein Stück?«, wollte Biba wissen.
» König Lear .«
»Oho«, sagte sie spöttisch. »Anspruchsvoll, Seffy-Boy. Und wer bist du, der verrückte König?«
»Nein, ich bin Edmund, ein ziemlich schneidiger junger Graf, den ich mit einem Mordsschwert spiele, das kann ich dir sagen.« Er schlug den Mantelkragen hoch, warf ihr einen düsteren Blick zu und wackelte mit den Augenbrauen.
»Oh Gott«, prustete sie, »bitte sag jetzt nicht, dass du der jugendliche Liebhaber bist?«
»Süße, ich bin der sexy Liebhaber.«
Beide Mädchen brachen in Gelächter aus, und ich lächelte ihnen allen im Rückspiegel zu. Er gab gerne solche kleinen Vorstellungen und brachte die Mädchen zum Lachen, sie liebten seine Gesellschaft, und ich wusste, dass sie stolz darauf waren, seine Cousinen zu sein. Groß, gut aussehend, mit lässiger Frisur, galt er als cool, obwohl er sich gar keine Mühe gab, so zu wirken. Und seine eher exotische Herkunft trug auch ihren Teil dazu bei: Sohn kroatischer Revolutionäre, dessen Vater für sein Land gekämpft hatte und gestorben war, und dessen Familie wir vergeblich aufzuspüren versucht hatten, aber nicht weiter als bis zu dem Priester, seinem Urgroßonkel, gekommen waren.
Als Seffy ungefähr zehn war, hatte ihn seine Herkunft stark beschäftigt, und er wollte einmal nach Kroatien
fahren. Wir hatten eine Pauschalreise gebucht für eine Woche im Sommer und fanden ein ganz anderes Land vor als das, was ich damals verlassen hatte. Die dalmatinische Küste war zu Recht zu einem Ferienziel geworden. Die malerischen, kleinen Hafenstädtchen waren voller Urlauber, eine Taverne neben der anderen breitete sich über die Gehsteige aus, auf denen sich Familien in Flipflops und Shorts drängelten und Ansichtskarten kauften. Ich hatte ihm das Haus gezeigt, in dem seine Eltern gelebt hatten und wo auch ich gewohnt hatte, inzwischen frisch gestrichen, hellblau, mit Bougainvilleen davor, die aus Pflanztöpfen im Hof wuchsen. Aber in dem Haus wohnte jetzt eine misstrauische dunkeläugige Familie, die uns, wie ich vermute aus Angst, wir würden irgendwelche Ansprüche auf das Haus erheben, nicht hineinlassen wollte. Wir konnten auch niemanden finden, der sich an Seffys Familie erinnerte, da die Mastlovas ja Flüchtlinge gewesen waren. Und bevor es zu deprimierend wurde,
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