Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Waren Sie auch bei der Krönung?

Waren Sie auch bei der Krönung?

Titel: Waren Sie auch bei der Krönung? Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Gallico
Vom Netzwerk:
nicht, der junge Mann mit dem steifen Hut, der Mann vom Lande in seinen Stiefeln, der Arbeiter in seinem Schlosseranzug — sie alle empfanden den einen jeden erfassenden Auftrieb mittelalterlicher Frauen Verehrung, die der Troubadoure. Ganz England und das Commonwealth waren vereint in einer gigantischen gefühlsbeschwingten Liebesbeziehung zu ihrer vor der Krönung stehenden Königin. Will Clagg war bloß etwas früher von „ diesem Gefühl erfaßt worden.
    Das geschah, um präzise zu sein, als er nach dem Ableben des Königs ihr Bild in den Zeitungen gesehen hatte. Sie war plötzlich und in größter Eile aus Afrika zurückgekehrt.
    Die Fotografie zeigte sie, wie sie beim Verlassen des Flugzeugs einen Augenblick lang auf der Einstiegtreppe zögerte, eine kleine, verlorene Gestalt, schwarz gekleidet, hinter den Rücken ihrer Minister, die in ihren dunklen Anzügen vor ihr aufgereiht waren wie Krähen auf einer Stange. Sie hatte England als frohgemute, junge Prinzessin verlassen und war als trauernde Königin zurückgekehrt. Clagg hatte das Bild lange und schweigend betrachtet und hatte gefühlt, wie sich ihr sein Herz öffnete.
    Die Königin hatte damals an alle ihre Untertanen die Bitte gerichtet, für sie zu beten. Nach außen hin neigte Clagg gar nicht zu überschwenglichen Gefühlen, und man konnte ihn auch nicht einen religiösen Menschen nennen. Man wird nie erfahren, ob er der Bitte der Königin nachkam und in jener Nacht ein stilles Gebet für sie sprach, ein einfaches Gebet, in dem er ein Wesen, dessen Name Gott war — ohne daß er sich diesen Gott so recht vorstellen konnte — , darum bat, der Königin beizustehen, sie zu beschützen und zu beschirmen. Aber von diesem Augenblick an war er an sie gebunden. Mit seiner Reise nach London gehorchte er etwas Uraltem in seinem Blut; sie war der Kniefall des loyalen Untertanen vor dem Thron, eine Geste, ein Treuegelöbnis und gleichzeitig ein Akt ritterlicher Galanterie.
    Was jedoch die Form betrifft, in der er seinen Empfindungen Ausdruck gab oder sie vielmehr in die Tat umsetzte, war Clagg die Einfachheit und Geradlinigkeit selbst. Er sagte bloß an einem Sonntagnachmittag Anfang April, als sie in dem bescheidenen Haus Imperial Road Nr. 52 in Little Pudney bei Tisch saßen: «Hört mal, könnten wir nicht alle zur Krönung nach London fahren? Wie wäre das?»
    Die Frage hatte seine Familie niedergeschmettert, sprachlos gemacht, begeistert, hypnotisiert, erschreckt und verzaubert. Er hatte sie wie eine glimmende Zündschnur auf den Tisch geworfen, wo sie brannte und sprühte und den Rauch und die Flammen des Abenteuers ausspie.
    Natürlich war ihr Geist schon auf die Krönung abgestimmt. Die Zeitungen und Wochenschriften waren seit Monaten voll von Artikeln und Fotografien darüber, und man fühlte bereits, wie die Spannung und Erregung wuchsen und die fernsten Winkel des Königreichs und des Commonwealth jenseits der Meere erfaßten.
    Violet Clagg war die erste, die auf das glorreiche Angebot reagierte, auf eine Verheißung, die so reich und strahlend war, wie sie sich sie, nach Abwechslung und Erregung dürstend, zutiefst ersehnt hatte. Wie ein Echo wiederholte sie seine Worte: «Nach London fahren! Zur Krönung! Wir alle? O Will!» Die ganze Intensität ihrer Sehnsucht drückte sich in dem Ton aus, in dem sie die beiden letzten Worte aussprach. Aber dann bemächtigten sich ihrer die alten Ängste und Enttäuschungen. «Wir können doch unmöglich mit den Kindern die ganze Nacht auf der Straße stehen! Für sie ist das ganz unmöglich.» Denn man erzählte bereits, daß die Leute die Absicht hatten, schon einige Nächte vorher auf dem Gehsteig an der Prozessionsroute zu schlafen, um sich ihre Plätze zu sichern.
    Johnny hatte gerufen: «Was macht das? Ich könnte die Soldaten sehen!»
    Violet fuhr fort, als ob sie begierig wäre, so rasch wie möglich alle denkbaren Einwände vorzubringen: «Und Mutter ist zu... Ich meine, ihre Füße schwellen beim Stehen an.»
    «Laß meine Füße aus dem Spiel», fuhr die Großmutter sie an. «Ihr wollt wohl, daß sich die Kinder in der Kälte den Tod holen? Und wenn es regnet? Wollt ihr sie die ganze Nacht auf der Straße sitzen lassen, so daß sie sich eine Lungenentzündung holen? Du mußt den Verstand verloren haben, Will Clagg!»
    «Nein, nein, nein!» hatte Will geschrien. «Ihr laßt einen nicht einmal in seinem eigenen Haus zu Wort kommen! Wer hat ein Wort davon gesagt, daß wir die ganze Nacht

Weitere Kostenlose Bücher