Waren Sie auch bei der Krönung?
durchwachen oder auf der Straße stehen sollen? Wir könnten doch Tribünensitze bekommen. Auf einer gedeckten Tribüne...»
«Viel zu spät dazu!» murmelte die Großmutter.
Gwendoline hatte ausgerufen: «Könnte ich wirklich die Königin sehn, Papi? Papi, würden wir die Königin in ihrer goldenen Kutsche ! sehn?»
Clagg betrachtete sie einen Augenblick lang zärtlich und sagte, seine Schwiegermutter ignorierend: «So nah, daß du ihr zuwinken kannst, und sie würde zurückwinken.» Er wandte sich an die anderen: «So würde es sein. In der Zeitung steht heute ein Artikel darüber, wie man ; Karten bekommen kann. Wir könnten es uns leisten, wenn...»
«Hach!» schnarrte die Großmutter. «Wenn was? Ich habe den Artikel auch gelesen. Zehn Pfund für eine Karte. Das ist was für Millionäre!»
«Wenn», schloß Will seinen Satz ab, «wenn wir auf unsere Sommerferien verzichten.»
Das brachte für einen Augenblick die Sehnsucht in ihrer Brust und ihre erregten Rufe zum Schweigen. Ihre alljährlichen zwei Wochen Urlaub in Morecambe Bay waren etwas Wunderbares und Kostbares, auf das sich jeder von ihnen freute.
Um es der Reihe nach aufzuzählen: Claggs Stellung und Einkommen als Vorarbeiter machten diesen Urlaub möglich. Für Violet Clagg bedeutete er zwei köstliche Wochen in einem Boarding House, wo sie Mahlzeiten aßen, die jemand anderes zubereitete, von Tellern, die eine andere wusch, wo sie auf Fußböden gingen, die von einer für diese Arbeit bezahlten Person geschrubbt wurden, und wo sie in Betten schliefen, die sie nicht machen mußte.
Der Urlaub versorgte die Großmutter mit ganz neuen Ohrenpaaren, denen sie ihre Ansichten über die Entartung der Welt, die Gräßlichkeit der heutigen Zeit und die Wertlosigkeit der modernen Generation an vertrauen konnte. Und den Kindern verhieß er zwei himmlische Wochen: Rudern, Spiele in Wasserlachen, Schwimmen, Spritzen, Graben, Garnelenfischen, und dazu die wunderbaren und fremdartigen Sehenswürdigkeiten und Geräusche und Gerüche und Speisen der Küste. Der Strand und der Pier mit seinen Spielautomaten und Buden, mit Verkaufsläden und Spazierritten auf Eseln waren das Paradies. Mit dem Taschengeld, das der Vater während der Ferien den Kindern gab, konnten sie allerlei kaufen und ausprobieren und kosten, was es natürlich in Little Pudney niemals gab. Ob Regen oder Sonnenschein,: das spielte keine Rolle für die Bootfahrten und die Konzerte auf der Strandpromenade sowie für alles andere. Weihnachten und Geburtstage waren Feste zweiten Ranges. Man zählte die Wochen vom 29. August, dem Tag der Heimreise, bis zu dem nächsten und scheinbar nie kommenden 15. August, da man sich wieder in Little Pudney in den Familienwagen zwängte und die Reise nach Morecambe antrat.
«So ist es», unterbrach Clagg das fassungslose Schweigen. «Ich habe es ausgerechnet. Wir können nicht beides haben. Wir müssen alle ein Opfer bringen. Was wollt ihr haben?» Er konnte nicht der Versuchung widerstehen, die Waagschalen ein klein wenig auf der Seite seiner eigenen Wünsche zu beschweren, und fügte hinzu: «Eine Krönung kann man nicht oft erleben, nicht wahr? Und eine Königin!»
Sie alle empfanden den Zauber des Wortes Königin; er wirkte sogar auf die Großmutter, denn sie erinnerte sich noch an Königin Viktoria in ihren letzten Lebensjahren.
Aber Clagg hatte es nicht nötig, die übrigen Mitglieder seiner Familie durch Überredungskünste auf seine Seite zu bringen; das Krönungsfieber hatte sie ja schon vor Wochen erfaßt. Sie hatten bereits das Wohnzimmer mit roten, weißen und blauen Papierbändern geschmückt: von den vier Ecken zum Kronleuchter und dann zum Kamin, über dem ein Bild der Königin hing. Sie hatten erwartet, daß sie am Krönungstag in irgendeiner Weise an den Festlichkeiten teilnehmen würden, die man in Little Pudney plante. Jetzt aber beabsichtigte das Haupt der Familie mit unerwarteter und erregender Plötzlichkeit, sie in den Mittelpunkt der Ereignisse zu versetzen, und das bedeutete für Gwendoline Clagg, daß sie die angebetete Gestalt der Königin mit ihren eigenen Augen sehen würde.
«Papi, Papi, ich will die Königin sehen!» Sie brauchte nicht nachzudenken oder lange zu überlegen, welche Wahl sie treffen sollte. Sie wußte nicht, was sie von dieser Verwandlung ihres allabendlichen Ein-schlaftraums in die Wirklichkeit erwarten konnte; sie wußte nur, daß dies das Ziel ihrer Sehnsucht war. Sie würde das Antlitz der Königin sehen, ihre
Weitere Kostenlose Bücher