Waren Sie auch bei der Krönung?
Augen, ihr Haar und ihre goldene Krone.
Wenn Gwendoline sich nach der Verwirklichung ihrer Phantasien sehnte, so galt für ihren Bruder genau das Gegenteil. Er neigte dazu, die Wirklichkeit der Pracht seiner Träume zu opfern. Oberflächlich gesehen, war Johnny Clagg, elf Jahre alt, ein ganz alltäglicher Junge. In seiner Gestalt und seinem Aussehen, in seinen Schularbeiten, auf dem Fußball- und dem Kricketplatz wich er in keiner Weise von der Norm ab. Aber in dieser ganz und gar nicht bemerkenswerten Person verbarg sich ein anderer John Clagg, dessen Leistungen unbegrenzt und hervorragend waren.
Die Leistungen lagen hauptsächlich auf militärischem Gebiet. Er hatte die Räuber von Sherwood Forest bereits hinter sich, er war mit den mittelalterlichen Rittern fertig. Die Soldaten des Zweiten Weltkriegs, der bei seiner Geburt in vollem Gang war, hatten sich seiner lebhaften Einbildungskraft bemächtigt. Sein ganzes Sinnen und Trachten war auf die Armee gerichtet, und bei Tag träumte er immer davon, wie er auf dem Schlachtfeld vom einfachen Soldaten Clagg zum Hauptmann Clagg befördert wurde. Er war Infanterist, Grenadier, Pionier, Meldefahrer, Panzerkommandant, Artillerist, unsterblich und heroisch. Seine Träume entsprangen Bilderbüchern und Karten mit farbigen, gut ausgerüsteten Soldaten. In seinem Spielzeugschrank gab es Bleisoldaten und einen winzigen Tank, Jeeps und Feldgeschütze, die auf dem Fußboden des Wohnzimmers aufgestellt werden konnten. Aber Johnny hatte die Vorbilder dieser Spielsachen nie in Wirklichkeit zu Gesicht bekommen, wenn man von den uniformierten Urlaubern absieht, die hin und wieder heimkamen, und von der Kanone aus dem Ersten Weltkrieg, die auf dem Hauptplatz von Great Pudney aufgestellt war. Jetzt wurde ihm versprochen, daß ihm das glorreiche, glanzvolle Schauspiel der Militärmacht Großbritanniens und des Commonwealth vorgeführt werden würde. Die beiden Ferienwochen am Meere schrumpften zu einer bedeutungslosen Nebensächlichkeit zusammen.
Violet Claggs Dilemma war schwieriger. Jene zwei Wochen waren ihre Ruhe- und Gesundungszeit, und sie mußte sie abwägen gegen einen erregenden, dramatischen, glanzvollen Tag in London. Besser als alle andern wußte sie, wie recht ihr Mann hatte, als er das Wort Opfer gebrauchte. Und dann brachte sie im Geiste dieses Opfer, nicht so sehr für sich selbst wie für ihre Kinder. Wenn Johnny und Gwen-doline einmal erwachsen sein würden, könnten sie erzählen, daß sie anläßlich der Krönung in London gewesen waren.
«Nun, was meint ihr?» fragte Clagg. «Das eine oder das andere. Wir wollen darüber abstimmen. Wer dafür ist, daß wir zur Krönung gehen, soll Ja sagen.»
Ein mehrstimmiges, helles «Ja!» tönte ihm entgegen. Auch Violets Stimme war zu hören.
«Und wer ist dagegen?»
«Meiner Meinung nach ist es reine Geldverschwendung!» sagte die Großmutter. «Die Kinder brauchen die Sonne und die Seeluft.» Nicht etwa, daß sie nicht hinfahren wollte; es widersprach einfach ihrer Natur, mit etwas, was die andern wollten, einverstanden zu sein.
Will Clagg, den Großmutters Starrköpfigkeit gewöhnlich in Wut versetzte, tat jetzt etwas, was man von ihm nicht gewghnt war. Er ging zu ihr und tätschelte die alte Dame unterm Kinn. «Hör mal, Großmütterchen», sagte er, «du warst dabei, als die letzte Königin begraben wurde, nicht wahr? Möchtest du nicht zusehen, wenn die neue gekrönt wird? Ich stimme dafür!»
Großmutter Bonner empfand zu ihrem Erstaunen eine so überwältigende Rührung, daß sie zwinkern mußte, um sie zu verbergen. Es war ganz richtig, sie war die lebendige Verbindung zwischen den bei j den Königinnen von England. «Nun ja», sagte sie zweideutig, «es wäre schließlich kein Unglück, wenn wir einen Sommer zu Hause blieben.»
«Damit wird es ein einmütiger Beschluß», hatte Will Clagg gesagt, Die Kinder schrien Hurra, klatschten mit den Händen und sprangen herum.
Den ganzen Tag lag der eingeschriebene Brief mit der Absenderadresse Albert Capes, Clacton Road Nr. 3, London S. W. 14., auf dem Kaminsims. Violet verzehrte sich vor Neugierde und ebenso die Großmutter, obwohl sie das niemals zugegeben hätte. Der Brief war erst eingetroffen, als Clagg schon zur Arbeit und die Kinder zur Schule gegangen waren, und es konnte kein Zweifel bestehen, daß er die Karten für die Krönung enthielt. Clagg hatte nämlich in der vorangegangenen Woche die Geldanweisung an seinen Vetter geschickt mit der Bitte, die
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