Waren Sie auch bei der Krönung?
Gedanken an all die Herrlichkeit, die ihrer harrte. Sitze in einem Fenster! Reihe A! Hyde Park Corner! (Die Lage wurde später auf einer in den Zeitungen veröffentlichten Karte der Prozessionsroute geprüft. Sie war einfach wundervoll!) Frühstück! Mittagessen! Champagner!!!
«Champagner», sagte Violet Clagg flüsternd zu sich selbst, und dann wiederholte sie laut: «Champagner! Ich habe noch nie Champagner getrunken!» In diesen Augenblick waren die zwei Wochen, die sehr notwendigen und ersehnten zwei Wochen im Hotel Seeblick in ihrem Denken einfach ausgelöscht, so wie die Kreideschrift auf einer Schiefertafel von einem Schwamm weggewischt wird. An ihrer Stelle erschien sofort ein neues Bild, das sie einigen Filmszenen entlieh: ein livrierter, würdevoll aussehender Diener in einem Salon hält die in eine Serviette gehüllte Flasche in der Hand. «Noch etwas Champagner, Mylady?» Nur daß diesmal die Person, die das zierlich gestielte Glas hielt, in das sich der kostbare Wein schäumend ergießen sollte, nicht die Gräfin Küßmirdenfuß war, sondern Violet Clagg in der Sitzreihe A des Fensters in Wellington Crescent, Hyde Park Corner. Sie würde, während die Königin vorbeifuhr, von ihrem ersten Glas Champagner nippen. Sie hatte die Jahre abgestreift und glich plötzlich ihren eigenen Kindern. Sie hatte jenes strahlende Etwas entdeckt, das anziehend und verlockend ist, und jede Faser ihrer Weiblichkeit lechzte danach.
Selbst die Großmutter war beeindruckt und wurde von der allgemeinen Aufregung angesteckt, obwohl sie es vorgezogen hätte, nicht mit Champagner, sondern mit Gin bewirtet zu werden. Natürlich konnte sie sich eine bissige Bemerkung nicht versagen. «Wie ich Bert kenne, werden die Sitze hinter einer Säule sein, oder Reihe A wird die hinterste Reihe sein und nicht die erste.» Aber sie mußte unwillig zugeben, daß sie, da Frühstück und Mittagessen serviert werden würden, weder Butterbrote noch Obst für die Kinder mitzunehmen brauchten, und das würde ihnen ziemlich viel Mühe ersparen.
So war es gekommen, daß nun alle Mitglieder der Familie Clagg in dem Abteil des Krönungssonderzugs beisammen saßen, sich in der Bewunderung der Mitreisenden sonnten und sich liebevoll jenem Traum hingaben, zu dem die blau-goldenen Karten die Tore öffneten. Die Räder sangen ihr Dickety-clax, Dickety-clax und brachten sie mit jeder Umdrehung der Erfüllung dieses Traumes näher.
Pünktlich um sieben Uhr an diesem Morgen glitt die Lokomotive des Krönungssonderzuges in den St. Pancras-Bahnhof, wo sie, Dampfwolken ausstoßend und keuchend zum Stillstand kam, als ob ihr in- ; folge der Anstrengungen der Reise der Atem ausgegangen wäre. London war an diesem Morgen in einen frostigen, grauen Sprühregen gehüllt, obwohl der eigentliche und denkwürdige Guß des Krönungstages noch nicht ernsthaft begonnen hatte. Ein bitterer Wind peitschte die Fahnen und Wimpel auf den Gebäuden und ließ die lustigen Banner, die quer über die Straßen gespannt waren, eine morgendliche Tarantella tanzen.
Beim Verlassen des Bahnhofs achteten die Mitglieder der Familie Clagg darauf, beisammen zu bleiben, denn sie waren noch nie zuvor in einem solchen Tumult eilender Menschen, Wagen, Taxis und Autobusse gewesen.
Dazu kam noch, daß ihre erstaunten und erregten Augen von den Plakaten der Zeitungsverkäufer mit den Worten begrüßt wurden: «Der Tag der Königin! Everest erobert! Hillary erreicht den Gipfel!»
«Was ist das — Everest?» fragte Johnny Clagg. Wenn etwas erobert wurde, betrachtete er das als seine Angelegenheit.
«Ein Berg», antwortete sein Vater. «Der höchste Berg in der Welt. Jemand ist hinaufgestiegen.» Und er kaufte eine Zeitung.
Johnnys Interesse verflüchtigte sich sofort. Berge und Bergbesteigungen interessierten ihn nicht, es sei denn, daß ein Gipfel ungeachtet verheerenden feindlichen Feuers erstürmt wurde. Aber Will Clagg empfand beim hastigen Lesen der Nachrichten auf der Titelseite ein prickelndes Gefühl des Stolzes und eine seltsame Verbundenheit mit einem Mann namens Hillary, der seine Leistungen mit einem so außerordentlichen Instinkt für den richtigen Zeitpunkt vollbracht hatte. Ganz offenbar hatte er all seine Kräfte eingesetzt, um diesen bisher noch nicht erkletterten Berggipfel der Königin als Krönungsgeschenk präsentieren zu können. Nun — Will Clagg konnte keine Berge besteigen, aber er konnte seine Familie um der Königin willen nach London bringen. Und nun waren sie
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