Warm Bodies
neuen Triebe da sind und teils beängstigend intensiv, will ich in Wirklichkeit bloß neben ihr liegen. In diesem Augenblick wäre mein größter Wunsch, dass sie ihre Hand auf meine Brust legt, einen warmen, zufriedenen Seufzer tut und weiterschläft.
Hier kommt etwas Kurioses. Eine Frage für die Zombiephilosophen. Was hat es zu bedeuten, dass meine Vergangenheit im Nebel liegt, die Gegenwart aber scharf konturiertist, mit Farben, Geräuschen im Überfluss? Seit ich ein Toter geworden bin, habe ich mit der Verlässlichkeit eines alten Kassettendecks neue Erinnerungen aufgezeichnet, schwach und dumpf und letztlich leicht zu vergessen. Aber ich kann mich an jede Stunde der letzten Tage erinnern, an jedes Detail, und der Gedanke, auch nur eines davon zu verlieren, ist entsetzlich. Woher kommt diese Konzentration? Diese Klarheit? Ich kann, vom Moment meiner Begegnung mit Julie an bis jetzt, da ich in der Krypta dieses Schlafzimmers neben ihr liege, eine Linie ziehen, und trotz der Millionen von Momenten, die ich vergessen oder wie Müll aus dem Autofenster geworfen habe, weiß ich mit verbissener Gewissheit, dass ich mich an diesen für den Rest meines Lebens erinnern werde.
Irgendwann vor Morgengrauen, während ich auf dem Rücken liege, ohne wirklich Schlaf zu brauchen, flackert hinter meinen geschlossenen Lidern ein Traum wie ein Film. Nur dass es kein Traum, sondern eine Vision ist, viel zu frisch und hell, um sich aus meinem leblosen Hirn zu speisen. Normalerweise geht diesen Secondhand-Erinnerungen ein Geschmack von Blut und Nervenzellen voraus, aber nicht heute Nacht. Heute Nacht schließe ich die Augen, und es geschieht , eine mitternächtliche Überraschungsvorstellung.
Wir eröffnen mit einer Szene beim Abendessen. Ein langer Metalltisch, minimalistisch gedeckt. Schalen mit Reis. Schalen mit Bohnen. Viereckiges Leinbrot.
»Wir danken dir, Herr unser Gott, dass du uns Speis und Trank gegeben hast«, sagt der Mann am Kopfende, die Hände gefaltet, doch die Augen weit offen.
»Sprich den Segen zu den Gaben. Amen.«
Julie stupst den Jungen neben sich an. Unter dem Tisch drückt er ihr Bein. Der Junge ist Perry Kelvin. Ich bin wiederin Perry Kelvins Kopf. Sein Hirn ist verschwunden, sein Leben verdunstet und inhaliert … und doch ist er noch da. Ist das ein chemischer Flashback? Eine Spur seines sich auflösenden Hirns, irgendwo in meinem Körper? Oder ist er es wirklich? Hält sich noch fest irgendwo, irgendwie, irgendwarum?
»Also Perry«, sagt Julies Vater zu ihm – zu mir. »Julie hat mir erzählt, dass du jetzt für den Agrarsektor arbeitest.«
Ich schlucke meinen Reis runter. »Ja, Sir, General Grigio. Ich bin ein –«
»Wir sind nicht in der Kantine, Perry, sondern beim Abendessen. Mr. Grigio reicht.«
»Okay. Jawohl, Sir.«
Es stehen vier Stühle am Tisch. Julies Vater sitzt am Kopfende, und sie und ich sitzen nebeneinander zu seiner Rechten. Der Stuhl am anderen Ende des Tisches ist leer. Alles, was Julie mir von ihrer Mutter erzählt hat, ist: »Sie ging weg, als ich zwölf war.« Und obwohl ich sanft gebohrt habe, hat sie mir nie mehr verraten, selbst dann nicht, als wir nackt in meinem Doppelbett gelegen haben, so erschöpft und glücklich und verletzlich, wie zwei Menschen nur sein können.
»Im Moment bin ich ein Pflanzer«, sage ich ihrem Vater, »aber ich glaube, ich stehe kurz vor einer Beförderung. Ich möchte Ernteaufseher werden.«
»Verstehe«, sagt er und nickt nachdenklich. »Das ist kein schlechter Job … aber ich frage mich, warum du nicht zu deinem Vater auf den Bau gehst. Ich bin mir sicher, er könnte junge Männer brauchen, die an dem alles entscheidenden Korridor arbeiten.«
»Er hat mich gefragt, aber, äh … ich weiß nicht. Ich glaube einfach nicht, dass der Bau im Moment das Richtige für mich ist. Ich arbeite gerne mit Pflanzen.«
»Pflanzen«, wiederholt er.
»Ich habe einfach das Gefühl, dass Dinge, die wachsen , in diesen Zeiten eine besondere Bedeutung haben. Der Boden ist so verbraucht, dass es schwer ist, ihm etwas abzuringen, aber es ist ziemlich befriedigend, wenn man am Ende doch etwas Grünes aus dieser grauen Kruste brechen sieht.«
Mr. Grigio hört auf zu kauen und schaut verständnislos. Julie sieht besorgt aus.
»Erinnerst du dich noch an den kleinen Busch, der damals im Osten in unserem Wohnzimmer stand?«
»Ja …«, sagt ihr Vater. »Was ist damit?«
»Du hast das Ding geliebt. Tu nicht so, als wäre dir Gärtnern fremd.«
»Das
Weitere Kostenlose Bücher