Warm Bodies
völlig geräuschlos.
»Wie konnte sie so schwach sein?«, sagt der Mann mit einer Stimme, als würde Stahl schmelzen. »Wie konnte sie uns hier allein lassen?«
Wir gehen schweigend. Der Niesel netzt unser Haar, und wir schütteln uns wie Hunde. Wir erreichen Colonel Rossos Haus. Rossos Frau öffnet die Tür, sieht Julies Gesicht und umarmt sie. Wir treten ins Warme.
Ich finde Rosso im Wohnzimmer. Er schlürft Kaffee und äugt durch seine Brille auf ein altes, wasserfleckiges Buch. Julie und Mrs. Rosso murmeln in der Küche, ich setze mich dem Colonel gegenüber hin.
»Perry«, sagt er.
»Colonel.«
»Wie schlägst du dich?«
»Ich lebe.«
»Ein guter Anfang. Wie hast du dich im Heim eingewöhnt?«
»Ich hasse es.«
Rosso ist einen Augenblick lang still. »Wo drückt der Schuh?«
Ich suche nach Worten. Die meisten von ihnen scheine ich vergessen zu haben. Schließlich sage ich leise: »Er hat mich angelogen.«
»Wie das?«
»Er hat gesagt, dass wir es hinkriegen würden, und dass alles vielleicht in Ordnung kommt, wenn wir nicht aufgeben.«
»Er hat daran geglaubt. Ich denke, ich glaube auch daran.«
»Aber dann ist er gestorben .« Meine Stimme zittert, undich will das Zittern unterdrücken. »Und es war so sinnlos. Kein Kampf, kein ehrenvolles Opfer, nur ein dummer Arbeitsunfall, der jedem überall hätte passieren können, zu jeder Zeit in der Geschichte.«
»Perry …«
»Ich versteh’s nicht, Sir. Was nützt es, eine Welt in Ordnung bringen zu wollen, in der wir nur so kurz sind? Was soll all die Mühe, wenn sie einfach verschwindet? Ohne jede Vorwarnung? Ein Scheiß-Ziegel auf den Kopf?«
Rosso sagt nichts. Die leisen Stimmen aus der Küche werden verständlich, während wir schweigen, also flüstern sie da drüben, versuchen vor dem Colonel zu verbergen, was er meiner Meinung nach schon weiß. Unsere kleine Welt ist schon viel zu müde, um sich wegen der Verbrechen ihrer Führer noch aufzuregen.
»Ich möchte der Security beitreten«, verkünde ich. Meine Stimme ist jetzt fest. Mein Gesicht ist hart.
Rosso atmet langsam aus und legt das Buch zur Seite. »Warum, Perry?«
»Weil es das Einzige ist, was noch Sinn macht.«
»Ich dachte, du wolltest schreiben.«
»Das ist sinnlos.«
»Warum?«
»Wir haben jetzt andere Sorgen. General Grigio sagt, dass es die letzten Tage sind. Ich möchte meine letzten Tage nicht damit verbringen, Buchstaben aufs Papier zu kratzen.«
»Schreiben heißt nicht bloß Buchstaben auf Papier. Es ist Kommunikation. Es ist Erinnerung.«
»Nichts davon hat noch Bedeutung. Es ist zu spät.«
Er mustert mich. Er nimmt das Buch und hält mir das Cover hin. »Kennst du die Geschichte?«
»Das ist Gilgamesch.«
»Ja. Das Gilgamesch-Epos, eines der ältesten Werke derLiteratur. Der Erstlingsroman der Menschheit, könnte man sagen.«
Rosso blättert in den brüchig-gelben Seiten. »Liebe, Sex, Blut und Tränen. Eine Reise, um das ewige Leben zu finden. Um dem Tod zu entfliehen.« Er reicht mir das Buch über den Tisch. »Es wurde vor über viertausend Jahren auf bröckelnde Steintafeln geschrieben, von Leuten, die Schlammböden beackert haben und selten älter als vierzig geworden sind. Es hat unzählige Kriege, Katastrophen und Seuchen überlebt und begeistert bis heute, denn hier bin ich, in den Ruinen der Moderne, und lese es.«
Ich sehe Rosso an und nicht auf das Buch. Meine Finger bohren sich in den Ledereinband.
»Die Welt, die diese Geschichte hervorgebracht hat, ist lange vergangen, alle ihre Menschen sind tot, aber die Geschichte rührt Gegenwart und Zukunft nach wie vor, weil diese Welt jemandem wichtig genug war, um sie zu bewahren. Um sie in Worte zu fassen. Um an sie zu erinnern.«
Ich schlage das Buch auf. Die Seiten sind mit Auslassungszeichen übersät, Wörter, ganze Zeilen sind verlorengegangen, aus dem Text herausgefault und für die Geschichte verloren. Ich starre auf die kleinen schwarzen Punkte, bis ich nichts anderes mehr sehe. »Ich will mich nicht erinnern«, sage ich und schlage das Buch zu. »Ich will der Security beitreten. Ich will gefährliche Sachen machen. Ich will vergessen.«
»Was willst du damit sagen?«
»Ich will gar nichts sagen.«
»Es klingt aber so.«
»Nein.« Die Schatten im Raum sammeln sich wie Wasser in den Linien unserer Gesichter und entziehen unseren Augen die Farbe. »Es gibt nichts mehr, das zu sagen lohnte.«
Ich bin taub. In der Finsternis von Perrys Gedanken verloren, vibriert sein Kummer in mir wie
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