Warm Bodies
der tiefe Ton einer Kirchenglocke.
»Arbeitest du, Perry?«, flüstere ich in die Leere. »Drehst du dein Leben zurück?«
Schhhhh , sagt Perry. Bring mich nicht aus der Stimmung. Ich brauche das, um durchzudringen.
Ich treibe in seinen unvergossenen Tränen, warte im salzigen Dunkel.
Die Morgensonne scheint durch Julies Balkonfenster. Die grünen Sternbilder haben sich in das Himmelsblau der Zimmerdecke zurückgezogen. Die Mädchen schlafen noch, aber ich habe hier bis auf ein paar wenige Stunden unruhigen Schlafs wach gelegen. Als ich nicht länger stillhalten kann, schlüpfe ich aus den Laken, strecke meine knirschenden Gelenke und lasse die Sonne erst über die eine, dann über die andere Wange strömen. Nora murmelt im Schlaf, ein bisschen Krankenpflege-Jargon, »Mitose« oder »Meiose«, wahrscheinlich »Nekrose«, und ich bemerke das eselsohrige offene Buch auf ihrem Bauch. Neugierig beuge ich mich über sie und greife vorsichtig danach.
Ich kann den Titel nicht lesen. Aber das Cover erkenne ich sofort. Ein heiteres, schlafendes Gesicht, das dem Betrachter seine Kehle mit den freigelegten Adern offenbart. Das Medizinlehrbuch Gray’s Anatomy .
Ich werfe einen nervösen Blick um mich, flitze mit der dicken Schwarte in den Flur und überfliege die Seiten.
Komplizierte Zeichnungen der menschlichen Architektur mit Organen und Knochen, die mir alle nur zu vertraut sind, obwohl die filetierten Körper hier sauber und perfekt dargestellt sind, die Details nicht mit Dreck oder Ausfluss verschmiert. Ich brüte über den Illustrationen, während Minute um Minute verrinnt, und Schuld und Faszination nagen an mir wie an einem pubertierenden Katholiken über einem Playboy . Natürlich kann ich die Bildunterschriften nicht lesen, aber während ich die Bilder eingehend betrachte, kommen mir lateinische Wörter in den Sinn, vielleicht ferne Erinnerungen aus meinem alten Leben, eine Vorlesung am College oder eine Fernsehsendung, die ich irgendwo gesehen habe. In mir wirkt dieses Wissen, aber ich packe es jetzt und halte es fest, ätze es in mein Gedächtnis. Was soll das? Warum will ich die Namen und Funktionen all dieser schönen Strukturen, die ich jahrelang geschändet habe, kennen? Weil ich es nicht verdiene, dass sie namenlos bleiben. Ich will den Schmerz spüren, sie und, in der Folge, mich kennen: wer und was ich wirklich bin. Vielleicht kann dieses Skalpell, glühend heiß und mit Tränen steril gemacht, die Fäulnis aus mir schneiden.
Stunden vergehen. Als ich jede Seite angeschaut und meinem Gedächtnis jede Silbe abgerungen habe, lege ich das Buch sanft zurück auf Noras Bauch. Auf Zehenspitzen gehe ich nach draußen auf den Balkon in der Hoffnung, dass die warme Sonne die in meinem Innern tobende moralische Übelkeit lindert.
Ich lehne mich an das Geländer und schaue auf Julies beengte Stadt. So dunkel und leblos sie in der letzten Nacht war, jetzt wimmelt und tost sie wie der Times Square. Was machen die alle?, rätsele ich. Auch am Flughafen der Untoten kann es wimmeln, aber echte Aktivität gibt es dort nicht. Wir machen nichts geschehen; wir warten darauf, es geschehen zu lassen. Der kollektive Wille, der aus den Lebendigen sprudelt, wirkt berauschend, und auf einmal verspüre ich den Drang, da unten in der Masse zu sein, mich Schulter an Schulter zu reiben, mir zwischen Schweiß und Atem einen Weg zu bahnen. Wenn es auf meine Fragen Antworten gibt, dann gewiss da unten, unter den nimmermüden Sohlen dieser dreckigen Füße.
Ich höre die Mädchen leise im Schlafzimmer reden, endlich sind sie aufgewacht. Ich gehe wieder rein und krieche unter die Laken zu Julie.
»Guten Morgen, R«, sagt Nora, nicht ganz aufrichtig. Mit mir wie mit einem Menschen zu reden, ist, stelle ich mir vor, für sie immer noch ungewohnt; sie wirkt, als würde sie jedes Mal am liebsten kichern, wenn sie mich sieht. Es ist unangenehm, aber ich verstehe es. Ich bin eine Absurdität, an die man sich erst gewöhnen muss.
»Morgen«, krächzt Julie und blinzelt mich über das Kissen an. Mit ihren verquollenen Augen und ihrem wirren Haar sieht sie unhübscher aus, als ich sie je gesehen habe. Ich frage mich, wie gut sie nachts schläft und welche Sorte Träume sie hat. Ich wünschte, ich könnte mich in diese Träume stehlen, so wie sie sich in meine stiehlt.
Sie rollt sich auf die Seite und stützt den Kopf auf den Ellbogen. Sie räuspert sich. »Also«, sagt sie. »Da bist du. Und jetzt?«
»Will … eure … Stadt
Weitere Kostenlose Bücher