Warm Bodies
zerfetzten Resten der Nationalflagge zerrt. Rosso sieht Julie einen Moment lang an, dann schließt er Noras Handschellen auf und hilft ihr auf die Beine. Nora reibt sich die Handgelenke, und sie tauschen einen Blick, der keine Worte braucht.
Julie kommt verstört und wie betäubt zu uns herüber. Rosso berührt ihre Schulter. »Es tut mir so leid, Julie.«
Sie schnieft und starrt auf ihre Füße. »Ich bin okay.« Ihre Stimme ist wie ihre Augen, tränenerstickt, wie ausgepresst. Jetzt, da ich es kann, möchte ich ihr das Weinen abnehmen. Julie ist eine Waise geworden, aber sie ist weit mehr als ein tragisches Opfer. Die Trauer wird sie am Ende einholen und ihr Recht einfordern, doch für den Augenblick ist sie hier bei uns, lebendig und ungebrochen.
Rosso streicht mit der linken Hand ihr Haar, klemmt eine Locke hinter ihr Ohr. Sie presst seine schwielige Handfläche gegen ihre Wange und lächelt schwach.
Dann richtet Rosso sein Augenmerk auf mich. Sein Blick wandert von einer Seite zur anderen, während er meine Pupillen mustert. »Archie, nicht wahr?«
»Nur R.«
Er streckt seine Hand aus, und nach einem Moment der Verwirrung reiche ich ihm meine. Rosso schüttelt meine gebrochene Hand, sein gebrochenes Handgelenk bereitet ihm sichtlich Schmerzen, er hält sie aus. »Ich weiß nicht genau, warum«, sagt er, »aber ich freue mich unheimlich, dich kennenzulernen, R.«
Er geht zurück zur Luke.
»Wird es morgen ein Gemeinschaftsmeeting geben?«, fragt Nora.
»Das werde ich bekanntgeben, sobald ich von dieser Leiter runter bin. Wir müssen uns um ein paar dringende Angelegenheiten kümmern.« Er wirft einen Blick auf die abziehenden Skelette. »Und natürlich würde ich gern von euch hören, was zur Hölle heute passiert ist.«
»Könnte sein, dass wir eine Theorie haben«, sagt Nora.
Rosso klettert die Leiter runter, sich vorsichtig mit der linken Hand festhaltend. Nora sieht Julie an. Und Julie nickt. Nora lächelt ihr zu, dann lächelt sie mir zu, dann verschwindet sie in der Luke.
Wir sind allein auf dem Dach. Julie blinzelt zu mir hinauf und mustert mich, als hätte sie mich nie zuvor gesehen. Dann weiten sich ihre Augen, und sie holt tief Luft. »Oh, mein Gott«, sagt sie. »R, du bist …« Sie streckt die Hand aus und reißt mir das Pflaster von der Stirn. Sie berührt die Stelle, wo sie mich an unserem ersten Tag verwundet hat, vor einer Ewigkeit, letzten Monat.
Ihre Finger sind rot.
»Du blutest! «
Als sie das sagt, fällt mir so manches auf. Heftige, punktuelle Schmerzen, überall an meinem Körper. Mir tut etwas weh . Ich klopfe mich von oben bis unten ab und stelle fest, dass meine Kleider vor Blut kleben. Es ist nicht das tote schwarze Öl, das sonst meine Adern verstopft hat. Es ist hell, klar, lebendig – rotes Blut.
Julie presst ihre Hand so fest gegen meine Brust, als wollte sie mir einen Karateschlag versetzen. Gegen den Druck ihrer Handfläche kann ich es spüren. Eine Bewegung tief in mir drinnen. Ein Puls.
»R!« Fast kreischt sie. »Ich glaube … du lebst! «
Sie stürzt sich auf mich, umschlingt mich und drückt mich so fest, dass ich meine halb verheilten Knochen knirschen höre. Sie küsst mich wieder, schmeckt das salzige Blut auf meiner Unterlippe. Ihre Wärme strahlt in meinen Körper, und ich erlebe einen Rausch der Empfindung, weil meine eigene Wärme zurückstrahlt.
Julie wird ganz still. Ein verblüfftes Lächeln zieht sich über ihr Gesicht.
Ich sehe an mir hinab, aber eigentlich ist das gar nicht nötig. Ich kann es spüren. Mein heißes Blut pocht durch meinen Körper, flutet Kapillaren und zündet Zellen wie ein Silvesterfeuerwerk. Ich kann die Euphorie eines jeden Atoms in meinem Fleisch spüren, spüre sie übersprudeln vor Dankbarkeit für eine zweite Chance, mit der sie nie gerechnet haben. Die Chance, noch einmal ganz von vorne anzufangen, richtig zu leben, richtig zu lieben, in einer Feuerwolke zu verbrennen und nicht im Schlamm verscharrt zu werden. Ich küsse Julie, damit sie nicht merkt, dass ich erröte. Mein Gesicht ist knallrot und heiß genug, um Stahl zu schmelzen.
Okay, Leiche, sagt eine Stimme in meinem Kopf, und ich spüre ein Zucken in meinem Bauch. Es ist mehr ein freundlicher Stups als ein Tritt. Ich gehe jetzt. Tut mir leid, dass ich bei eurer Schlacht nicht dabei sein konnte; ich habe meine eigene gekämpft. Aber wir haben gewonnen, oder? Ich kann es spüren. Da ist ein Zittern in unseren Beinen, ein Beben, als ob die Erde sich schneller
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