Warnschuss: Thriller (German Edition)
»Elise?«, fragte er leise.
»Ja?«
»Du kannst alles haben, was du willst, Liebling, du brauchst nur zu fragen.«
»Was sollte ich noch wollen? Ich will nichts. Du bist so großzügig.«
Er sah ihr tief in die Augen, als suche er etwas hinter ihrem ruhigen Blick. Dann drückte er kurz ihre Arme und gab sie anschließend frei. »Hast du deine Milch getrunken?« Sie nickte. »Gut. Lass uns wieder ins Bett gehen. Vielleicht kannst du jetzt schlafen.«
Er wartete, bis sie voranging. Auf dem Weg zur Tür drehte sie sich kurz um. Cato stand immer noch hinter dem Schreibtisch und beobachtete sie. Das helle Licht der Lampe zeichnete dunkle Schatten in sein Gesicht und hob das nachdenkliche Stirnrunzeln hervor.
Dann schaltete er die Lampe aus, und der Raum lag wieder im Dunkeln.
3
Duncan brauchte kein Licht zum Spielen.
Im Gegenteil, er spielte gern im Dunkeln, weil er dann das Gefühl hatte, dass die Musik aus der Dunkelheit kam und nicht mit ihm in Verbindung stand. Irgendwie war das sogar so, wenn das Licht an war. Sobald er eine Klaviertaste drückte, übernahm eine Instanz in seinem Unterbewusstsein, die nur bei diesen Gelegenheiten auftauchte, die Kontrolle.
»Es ist eine Gottesgabe, Duncan«, hatte seine Mutter erklärt, als er ihr das Phänomen mit dem beschränkten Wortschatz eines Kindes zu erklären versuchte. »Ich weiß nicht, wo die Musik herkommt, Mom. Es ist komisch. Ich – ich w eiß es einfach nicht.«
Als er acht war, hatte sie beschlossen, dass es Zeit war, den Klavierunterricht aufzunehmen. Doch als sie sich mit
ihm auf die Klavierbank gesetzt, ihm das mittlere C gezeigt und ihm die Grundlagen des Instruments erläutert hatte, hatten sie beide zu ihrer Bestürzung erkannt, dass er schon spielen konnte.
Er hatte das nicht gewusst. Als er die vertrauten Kirchenlieder zu klimpern begann, erschreckte ihn das noch mehr als seine verblüfften Eltern. Denn er spielte nicht nur die Melodien nach. Er setzte Akkorde, ohne zu wissen, was Akkorde sind.
Natürlich hatte er, seit er denken konnte, seiner Mutter beim Üben für den Sonntagsgottesdienst zugehört, was erklärte, woher er diese Lieder kannte. Aber er konnte auch alles andere spielen. Rock. Swing. Jazz. Blues. Folk. Country. Klassik. Er konnte jede Melodie nachspielen, die er irgendwann gehört hatte.
»Du spielst nach Gehör«, hatte ihm seine Mutter erklärt und dabei liebevoll und stolz seine Wange gestreichelt. »Das ist eine Gabe, Duncan. Sei dankbar dafür.«
Er war ganz und gar nicht dankbar dafür, denn seine »Gabe« war ihm peinlich. Er betrachtete sie eher als Fluch und bettelte seine Eltern an, nicht damit anzugeben und niemandem zu erzählen, dass er über dieses seltene Talent verfügte.
Auf gar keinen Fall durften seine Freunde davon erfahren. Sie würden ihn für ein Weichei, ein Mädchen oder einen Freak halten. Er wollte keine Gabe. Er wollte ein unauffälliges, ganz normales Kind sein. Er wollte Sport treiben. Wer wollte schon auf einem dämlichen Klavier spielen?
Seine Eltern versuchten ihn zu bekehren und beteuerten, es sei völlig normal, Sport zu treiben und zu musizieren, außerdem sei es eine Schande, sein Talent so zu verschleudern.
Doch sie konnten ihm nichts vormachen. Schließlich musste er jeden Tag in die Schule gehen, nicht sie. Er
wusste, dass sich alle über ihn lustig machen würden, falls jemand herausfand, dass er Klavierspielen konnte und in seinem Kopf Melodien gespeichert hatte, von denen er nicht einmal den Titel kannte.
Er ließ sich nicht bekehren. Als sein Flehen nicht erhört wurde, reagierte er mit Trotz. Nachdem sie einmal ein ganzes Abendessen lang debattiert hatten, schwor er, dass er nie wieder ein Klavier berühren würde, selbst wenn sie ihn an die Klavierbank ketten und ihm nichts mehr zu essen und zu trinken geben und ihn auch nicht mehr aufs Klo lassen würden, bis er spielte, selbst dann würde er sich weigern. Wie würden sie sich wohl fühlen, wenn er so an die Klavierbank gekettet erst verschrumpeln und dann verdursten würde?
Sie ließen sich von seinem melodramatischen Schwur nicht beirren, aber auf lange Sicht konnten sie ihn nicht zum Spielen zwingen, also hatte er gesiegt. Der Kompromiss bestand darin, dass er nur zu Hause und nur für seine Eltern spielte.
Obwohl er das keinesfalls zugegeben hätte, genoss er diese Privatdarbietungen. Insgeheim liebte er die Musik, die so mühelos, gedankenlos und ohne jeden Zwang aus seinem Gehirn in seine Finger floss.
Mit
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