Warnschuss: Thriller (German Edition)
achtunddreißig konnte er immer noch nicht Noten lesen. Für ihn bestand ein Notenblatt aus Strichen und Klecksen. Aber im Lauf der Jahre hatte er sein angeborenes Talent, das immer sein Geheimnis geblieben war, geschärft und verfeinert. Immer wenn ihn jemand nach dem Klavier in seinem Wohnzimmer fragte, erklärte er wahrheitsgemäß, dass es sich um ein Erbstück seiner Großmutter handelte.
Er spielte, weil er sich in der Musik verlieren wollte. Er spielte zu seinem persönlichen Vergnügen oder wenn er abschalten wollte, er spielte, um seinen Geist vom Alltag zu lösen oder um ein verzwicktes Problem zu entwirren.
So wie heute Abend. Seit dem Vorfall mit der abgeschnittenen Zunge hatte sich Savich nicht mehr bemerkbar gemacht. Das kriminaltechnische Labor hatte bestätigt, dass sie tatsächlich Freddy Morris gehört hatte, aber damit konnten sie Savich den Mord ebenso wenig nachweisen.
Savich war frei. Er konnte nach Herzenslust seinen lukrativen Drogenhandel betreiben und jeden umbringen, der ihm in die Quere kam. Duncan war klar, dass auch er als Fußnote auf Savichs Liste stand. Wahrscheinlich mit einem dicken Sternchen versehen.
Er versuchte nicht darüber nachzugrübeln. Er hatte andere Fälle zu lösen, anderes zu tun, trotzdem nagte es an ihm, dass Savich immer noch draußen war, sich alle Zeit der Welt ließ und nur auf den richtigen Moment zum Zuschlagen wartete. Seit ein paar Tagen war Duncan ein bisschen vorsichtiger, einen Hauch wachsamer und nie unbewaffnet. Trotzdem fühlte er sich weniger verängstigt als angespannt.
Auch an diesem Abend hielt ihn dieses übermächtige Gefühl der Erwartung wach. Im Klavierspiel hatte er Zuflucht vor seiner inneren Ruhelosigkeit gesucht. Er klimperte gerade in seinem finsteren Wohnzimmer eine melodische Eigenkomposition, als das Telefon läutete.
Er sah auf die Uhr. Arbeit. Niemand rief um ein Uhr vierunddreißig morgens an, um mitzuteilen, dass es keinen Mord gegeben hatte. Beim zweiten Läuten war er am Apparat. »Ja?«
Zu Anfang ihrer Partnerschaft hatten er und DeeDee ein Abkommen getroffen. Wenn sie am Tatort eines Mordes gebraucht wurden, wurde sie als Erste angerufen. Denn er konnte eher einen wichtigen Anruf verschlafen. Sie als Koffein-Junkie hatte von Natur aus einen leichten Schlaf.
Er rechnete damit, dass sie am Telefon war, und sie war es auch. »Hast du geschlafen?«, fragte sie aufgekratzt.
»Mehr oder weniger.«
»Oder Klavier gespielt?«
»Ich spiele nicht Klavier.«
»Stimmt. Egal, was du auch tust, hör auf damit. Wir müssen los.«
»Wer hat wen abserviert?«
»Du wirst es nicht glauben. Hol mich in zehn Minuten ab.«
»Wo…« Aber er sprach ins Nichts. Sie hatte schon aufgelegt.
Er ging nach oben, zog sich an und legte sein Holster an. Keine zwei Minuten nach dem Anruf seiner Partnerin saß er im Auto.
Er wohnte in einem Stadthaus im historischen Distrikt von Savannah, nur wenige Blocks von der Polizeizentrale entfernt – jenem altehrwürdigen Backsteinbau, der von ganz Savannah nur als »Barracks« bezeichnet wurde.
Zu dieser Stunde waren die schmalen, von Bäumen überwölbten Straßen menschenleer. Auf der Abercorn Street stadtauswärts rollte er verstohlen über ein paar rote Ampeln. DeeDee wohnte in einer Nebenstraße dieser großen Einfallsschneise in einer adretten Doppelhaushälfte mit gepflegtem Gärtchen. Sie marschierte ungeduldig vor dem Haus auf und ab, als er den Wagen an den Bordstein lenkte.
Gleich darauf saß sie neben ihm und legte den Gurt an. Dann hielt sie die Hand vor die Achselhöhle. »Ich schwitze jetzt schon wie ein Schwein. Wie kann es mitten in der Nacht nur so heiß und klebrig sein?«
»Zu dieser Stunde ist so manches heiß und klebrig.«
»Du solltest nicht so viel mit Worley herumhängen.«
Er grinste. »Wohin?«
»Zurück auf die Abercorn.«
»Was haben wir im Tagesangebot?«
»Eine Schießerei.«
»In einem Supermarkt?«
»Mach dich auf was gefasst.« Sie atmete tief ein und wieder aus. »Bei Richter Cato Laird.«
Duncans Kopf schnellte zu ihr herum, erst dann fiel ihm ein, dass er bremsen sollte. Der Wagen kam ruckartig zum Stehen, beide wurden in ihren Sitzen nach vorn geschleudert, bis die Gurte sie abfingen.
»Mehr weiß ich auch nicht«, beantwortete sie sein ungläubiges Schweigen. »Ehrenwort. Irgendwer wurde im Haus der Lairds erschossen.«
»Haben sie gesagt…«
»Nein. Ich weiß nicht, wer.«
Er sah wieder nach vorn, fuhr sich mit der Hand übers Gesicht, nahm den
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