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Warte auf das letzte Jahr

Warte auf das letzte Jahr

Titel: Warte auf das letzte Jahr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip K. Dick
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prahlerischen Diktatoren der Vergangenheit: Er nahm die Schuld auf sich. Er hat keinen Außenminister gefeuert oder einen seiner politischen Berater hinausgeworfen. Er war dafür verantwortlich, und er weiß das. Und es tötet ihn, Stück für Stück, tagein, tagaus, von innen heraus. Er liebt die Erde. Er liebt die Menschen, alle, die gewaschenen und ungewaschenen; er liebt den verkommenen Haufen seiner schmarotzenden Verwandten. Er läßt Menschen erschießen und einsperren, aber es bereitet ihm keine Freude. Molinari ist ein komplexer Mann, Doktor. So komplex, daß …«
    »Eine Mischung aus Lincoln und Mussolini«, unterbrach Dorf trocken.
    »Jedem, der ihm begegnet, erscheint er als anderer Mensch«, fuhr Teagarden fort. »Gott, er hat so schäbige, so verflucht gemeine Dinge getan, daß Ihnen die Haare zu Berge stehen würden, wüßten Sie davon. Er mußte es tun. Manches davon wird nie an die Öffentlichkeit dringen; selbst seine politischen Feinde wagen es nicht. Und es quält ihn, daß er sie getan hat. Haben Sie jemals jemanden kennengelernt, der wirklich die Verantwortung und Schuld und Sühne auf sich genommen hat? Vielleicht Sie? Oder Ihre Frau?«
    »Wahrscheinlich nicht«, gab Eric zu.
    »Falls Sie oder ich wirklich jemals die Verantwortung für das übernehmen würden, was wir in unserem Leben getan haben – es würde uns umbringen oder uns den Verstand rauben. Nehmen Sie die Tiere, die wir auf der Straße überfahren oder die wir verzehrt haben. Als Kind mußte ich jeden Monat Ratten vergiften. Haben Sie schon einmal den Todeskampf eines vergifteten Tieres beobachtet? Oder von Dutzenden Tieren, und das Monat für Monat? Ich fühle es nicht. Die Schuld. Die Last. Zum Glück – denn andernfalls könnte ich nicht mehr weiterleben. Und so ergeht es allen Menschen. Bis auf den Maulwurf. Wie man ihn nennt.« Nachdenklich fügte Teagarden hinzu: »Lincoln und Mussolini … Ich dachte mehr an den Einen, der vor über zweitausend Jahren lebte.«
    »Das ist das erste Mal«, erklärte Eric, »daß ich höre, wie jemand Gino Molinari mit Jesus Christus vergleicht.«
    »Vielleicht«, erwiderte Teagarden, »liegt es daran, daß Sie zum erstenmal mit einem Menschen sprechen, der vierundzwanzig Stunden am Tag mit dem Maulwurf zusammen ist.«
    »Erwähnen Sie nur nicht Mary Reineke gegenüber Ihren Vergleich«, riet Dorf. »Sie wird Ihnen sagen, daß er ein Bastard ist. Ein Schwein im Bett und am Tisch, ein geiler Mann mittleren Alters, der nur Bumsen im Kopf hat und an sich in den Knast gehört. Aber sie nimmt es ihm nicht übel … denn sie besitzt ein gutes Herz.« Dorf lachte hart.
    »Nein«, wehrte Teagarden ab, »so etwas würde Mary nicht sagen … oder nur, wenn sie verärgert ist. Ich weiß nicht genau, was Mary Reineke sagen würde; möglicherweise nichts. Sie akzeptiert ihn so, wie er ist; sie versucht ihm zu helfen, aber selbst wenn er sich nicht helfen läßt – und das tut er nicht –, liebt sie ihn. Haben Sie je eine derartige Frau kennengelernt? Eine Frau, die Möglichkeiten in Ihnen sah? Und wenn man die richtige Hilfe von ihr bekommt …«
    »Ja«, sagte Eric. Er sehnte sich danach, daß Teagarden das Thema wechselte; er mußte dabei an Kathy denken. Und er wagte es nicht. Der Kopter brummte weiter in Richtung Cheyenne.
     
    Dösend und allein lag Kathy im Bett, als das morgendliche Sonnenlicht ihr Schlafzimmer erhellte und die Farben der Einrichtung von innen heraus zum Leuchten brachte. All die Farben, die ihr von ihrem Eheleben mit Eric so vertraut waren und die mit dem zunehmenden Licht immer deutlicher wurden. In ihrer Wohnung hatte sich Kathy mit den Geistern der Vergangenheit umgeben, harmonisch integriert in die Erfindungen anderer Zeitalter: eine Lampe aus dem frühen Neu-England, eine Kommode aus Ahornholz, eine weiße Vitrine … Sie lag da, mit halbgeschlossenen Augen, und war sich der Gegenwart der Antiquitäten und der Umstände, wie sie sie erworben hatte, bewußt. Jedes Einzelstück zeugte von einem Sieg über einen Konkurrenten; einige geschickte Sammler hatten versagt, und es schien nicht weit hergeholt, diese Sammlung mit einem Friedhof zu vergleichen, wo die Geister der Besiegten ganz nahe waren. Sie hatte gegen ihre Aktivität nichts einzuwenden; schließlich war sie zäher als sie.
    »Eric«, murmelte sie schläfrig, »steh um Himmels willen auf und mach mir Kaffee. Und hilf mir aus dem Bett. Warum sagst du nichts?«
    Sie drehte sich zu ihm herum, doch sein Platz war leer.

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