Warte auf das letzte Jahr
Seifenblasenwelt, die ihr – zumindest in diesem Zustand des Halluzinierens – keinen Widerstand entgegensetzte. Nun aber, von der vertrauten Einrichtung ihres Büros umgeben, erlebte sie eine unheilvoll zunehmende Veränderung der Realität: Alles schien an Festigkeit zu gewinnen. Sie wußte, daß sie keine Möglichkeit mehr hatte, in irgendeiner Weise Einfluß auf sie zu nehmen, sie zu bewegen, zu verändern.
Und gleichzeitig bemerkte sie, wie diese beklemmende Veränderung auch ihren Körper erfaßte. Das Verhältnis zwischen ihren körperlichen Kräften und der äußeren Welt hatte sich auf das schrecklichste gewandelt; sie registrierte, wie sie im buchstäblich physischen Sinne immer hilfloser wurde – und mit jeder verstreichenden Sekunde verringerten sich ihre Einflußmöglichkeiten. Zum Beispiel die Decca-Schallplatte. Sie lag in Reichweite ihrer Hände, doch was würde geschehen, wenn sie nach ihr griff? Mit Sicherheit würde sich die Platte ihr entziehen. Ihre unnatürlich schwere, ungeschickte, plump gewordene Hand würde die Platte beschädigen oder ganz zerbrechen; es war unmöglich, daß sie die Platte mit der gebotenen Behutsamkeit behandeln konnte. Feine, vorsichtige Bewegungen standen ihr nicht mehr zur Verfügung und waren durch Schwerfälligkeit ersetzt worden.
Allerdings verriet ihr das einiges über die Beschaffenheit von JJ-180; die Droge gehörte zu der Gruppe der Thalamus-Stimulatoren. Und jetzt, während der Entzugsphase, litt sie unter einer Verringerung der Thalamus-Ausschüttung; der Wandel, den die Außenwelt und auch ihr Körper erfahren hatten, beruhte in Wirklichkeit auf geringfügigen Veränderungen des Stoffwechsels ihres Gehirns. Aber …
Dieses Wissen half ihr nicht weiter. Denn die Veränderungen in ihr und an ihrer Außenwelt waren authentische Erfahrungen, die von ihren normalen Nervenbahnen übertragen und gegen ihren Willen ihrem Bewußtsein aufgeprägt wurden. Sie konnte sich den Stimuli nicht entziehen. Und die physiognomische Wandlung der Welt ging weiter; ein Ende war noch nicht abzusehen. Panikerfüllt dachte sie: Was steht mir noch bevor? Wie schlimm wird es werden? Sicherlich nicht sehr viel schlimmer … Die Undurchdringlichkeit selbst der kleinsten Dinge in ihrer Nähe schien fast unermeßlich zu sein; sie saß aufrecht da, unfähig, sich zu bewegen, nicht in der Lage, ihren großen Körper vor den erdrückend schweren Dingen zu schützen, die sie umgaben und die sich immer enger um sie zu schließen schienen.
Und selbst als das ganze Büro sie umpanzerte, da entfernte es sich auf einer anderen Ebene von ihr; es zog sich auf bedeutungsvolle, schreckenerregende Weise von ihr zurück. Die Dinge verloren ihre Vertrautheit, erkannte sie. Die Interaktion zwischen der unbelebten Materie und ihrer Seele ließ nach; Stück für Stück wurde alles kälter, verschwommener und – feindseliger. Vakuum umgab sie, Leere, die sonst ausgefüllt wurde von dem psychologischen Bezug, den jeder Mensch zu seiner unbelebten Umwelt besaß; alles wirkte roh, grell, bekam Risse und Kanten, die sie verletzen und klaffende Wunden schlagen konnten. Sie wagte nicht, sich zu rühren. Jedes Objekt trug den potentiellen Tod in sich; selbst der handgefertigte Messingaschenbecher auf ihrem Schreibtisch war falsch geworden, seine symmetrische Verzerrung verriet, daß er Pläne ausbrütete, und sie wußte, er würde sie in Stücke schneiden, wenn sie so dumm sein und seine stachelige Oberfläche berühren sollte.
Die Sprechanlage auf ihrem Schreibtisch summte. »Mrs. Sweetscent«, ertönte die Stimme von Lucile Sharp, Virgil Ackermans Sekretärin, »Sie sollen in Mr. Ackermans Büro kommen. Nehmen Sie bitte die neue Schallplatte mit; er hat Interesse an der Aufnahme von ›Bei mir bist du schön‹ gezeigt.«
»Ja«, sagte Kathy, und die Anstrengung war fast zuviel für sie. Ihr Atem ging schwer, und sie saß da, gefesselt von dem Druck in ihrem Innern, bis sich die physiologischen Prozesse in ihrem Gehirn nach und nach wieder normalisierten. Und schließlich konnte sie wieder frei atmen; sie füllte ihre Lunge und stieß die Luft heftig und lautstark wieder aus. Im Augenblick war sie gerettet. Doch was würde als nächstes geschehen? Sie erhob sich und blieb stehen. So ist es also, wenn man von JJ-180 abhängig ist, dachte sie. Mühsam gelang es ihr, die Decca-Platte in die Hand zu nehmen. Ihre dunklen Ränder schnitten wie Messer in ihre Haut, als sie sich der Bürotür näherte. Die
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