Warte, bis du schlaefst
dass der jungenhafte, scheinbar sorglose Nick, den ich in Erinnerung hatte, nicht mehr existierte.
Schon als ich ihn im Fernsehen gesehen hatte, war mir aufgefallen, dass die Konturen seines Kinns kantiger geworden waren und dass sich mit zweiunddreißig schon einige graue Strähnen in seine dunklen Haare eingenistet hatten. Doch jetzt, aus der Nähe betrachtet, war da noch
mehr. Er hatte immer so einen neckischen, flirtenden Ausdruck um seine dunkelbraunen Augen gehabt, nun wirkte sein Blick ernst. Dennoch, sein Lächeln, als er meine Hand ergriff, war so, wie ich es in Erinnerung hatte, und er schien aufrichtig erfreut zu sein, mich zu sehen. Er gab mir einen unverfänglichen, flüchtigen Kuss auf die Wange, ersparte mir jedoch Sprüche wie: »Die kleine Carolyn – so groß ist sie geworden.«
Stattdessen sagte er: »Carolyn MacKenzie, Doktor der Jurisprudenz! Ich habe irgendwo gehört, dass du dein Studium abgeschlossen hast und für einen Richter arbeitest. Ich wollte eigentlich anrufen, um zu gratulieren, aber irgendwie bin ich nicht dazu gekommen. Tut mir leid.«
»Der Weg zur Hölle ist mit guten Vorsätzen gepflastert«, sagte ich leichthin. »Das hat jedenfalls Schwester Patricia in der fünften Klasse zu uns gesagt.«
»Und zu uns hat Bruder Murphy in der siebten Klasse gesagt: Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen.«
Ich musste lachen. »Sie hatten beide recht«, sagte ich, »aber anscheinend hast du nicht richtig hingehört.« Wir grinsten uns an. Es war dieselbe Art von Spötteleien, wie wir sie auch damals bei den Abendessen ausgetauscht hatten. Ich griff nach meiner Tasche. »Von mir aus können wir gehen«, sagte ich.
»Gut. Mein Auto steht unten.« Er schaute sich um. Von seinem Standpunkt aus konnte er eine Ecke des Esszimmers sehen. »Ich erinnere mich sehr gerne an die Abendessen bei euch«, sagte er. »Wenn ich dann an einem Wochenende nach Hause fuhr, wollte meine Mutter in allen Einzelheiten wissen, was wir gegessen hatten, und ich musste ihr die Farben des Tischtuchs und der Servietten
beschreiben und welche Blumen deine Mutter für den Strauß in der Mitte verwendet hatte.«
»Ich kann dir versichern, dass wir das nicht jeden Abend gemacht haben«, sagte ich, während ich mein Schlüsselbund aus der Tasche fischte. »Aber wenn du und Mack zu uns nach Hause kamt, dann hat Mom gerne ein bisschen Aufwand getrieben.«
»Mack hat diese Wohnung immer gerne seinen Freunden vorgezeigt«, kommentierte Nick. »Aber ich habe mich revanchiert. Ich habe ihn ein paarmal zu uns nach Astoria mitgenommen, damit er auch mal in den Genuss der besten Pizza und Pasta auf der ganzen Welt kommt.«
War da eine Schärfe in Nick DeMarcos Stimme, als ob da immer noch Ressentiments wegen der unterschiedlichen sozialen Herkunft bestünden? Vielleicht nicht, aber ich war mir nicht sicher. Im Aufzug, auf dem Weg nach unten, fiel ihm auf, dass Manuel, der Aufzugsführer, einen Ring mit einem Abzeichen trug, und fragte ihn danach. Manuel erzählte ihm stolz, dass er gerade seinen Abschluss am John Jay College gemacht habe und demnächst an der Polizeiakademie anfangen werde. »Ich kann es gar nicht erwarten, Polizist zu werden«, sagte er.
Natürlich habe ich nicht mehr wirklich zu Hause gewohnt, seit ich mein Jurastudium angefangen habe, doch ich hatte öfter ein paar Worte mit Manuel gewechselt. Er arbeitete seit mindestens drei Jahren in unserem Gebäude, und dennoch hatte Nick in wenigen Sekunden mehr über ihn herausgefunden, als ich in all der Zeit. Nick besaß die Fähigkeit, die Leute dazu zu bringen, sich ihm gegenüber sofort zu öffnen, und vermutlich hing mit dieser besonderen Fähigkeit auch sein großer Erfolg in der Gastronomie zusammen.
Nicks schwarzer Mercedes stand vor dem Gebäude geparkt. Zu meiner Überraschung sprang ein Fahrer heraus, um uns die hintere Tür aufzuhalten. Ich weiß nicht, warum, aber ich hätte mir nie vorgestellt, dass Nick einen Fahrer haben könnte. Es war ein schwergewichtiger, breiter Mann, der die fünfzig überschritten und das Gesicht eines ehemaligen Preisboxers hatte. Seine breite Nase schien den größten Teil ihrer Knorpelmasse eingebüßt zu haben, und an seinem Kinn verlief eine auffällige Narbe.
Nick machte uns miteinander bekannt. »Benny hat zwanzig Jahre für Papa gearbeitet. Als sich Papa dann vor fünf Jahren zur Ruhe gesetzt hat, habe ich ihn geerbt. Eine glückliche Fügung, muss man sagen. Benny, das ist Carolyn
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