Warte, bis du schlaefst
Bruder gestellt hatte, doch nun beschloss er, das lieber zu unterlassen. In seiner gegenwärtigen Laune würde Olsen ihm gewiss vorhalten, er hätte ihn sofort davon in Kenntnis setzen müssen und er könne nicht unterscheiden, was wichtig sei und was nicht. Außerdem war Olsen immer fuchsteufelswild geworden, wenn in den letzten zehn Jahren der Fall MacKenzie zur Sprache kam – er lief dann rot an und wurde laut.
»Im Mai haut dieser Kerl einfach ab«, zeterte er dann. »Die Wohnungen waren alle bis zum kommenden September vermietet. Die Hälfte der Leute haben daraufhin vorzeitig gekündigt. Der Junge ist zuletzt in meinem Haus
gesehen worden, also glaubten die Eltern, dass da vielleicht so ein Geisteskranker im Treppenhaus herumlungert …«
Howard bemerkte, dass ihn sein Boss eindringend musterte.
»Howie, mir scheint, dass Sie noch irgendetwas auf dem Herzen haben. Ist da noch was?«
»Nein, nein, gar nichts, Mr. Olsen«, versicherte Howard mit fester Stimme.
»Na schön. Haben Sie das mit dem verschwundenen Mädchen gelesen? Wie hieß sie gleich – Leesey Andrews?«
»Ja. Schreckliche Sache. Ich habe heute Morgen noch die Nachrichten gesehen, bevor ich los bin. Anscheinend haben sie kaum noch Hoffnung, sie lebend zu finden.«
»Diese jungen Frauen sollten nicht in diese Clubs gehen. Zu meiner Zeit saßen sie schön brav zu Hause bei ihren Müttern.«
Howard streckte seine Hand nach der Rechnung aus, als die Bedienung sie neben Olsen auf den Tisch legte. Das war ein Ritual, das sie jede Woche veranstalteten. In neunzig Prozent der Fälle ließ ihn Olsen gewähren. Wenn er schlecht gelaunt war, zahlte er jedoch selbst.
Olsen schnappte sich die Rechnung. »Ich möchte nicht, dass die Kramers gehen, Howie, verstanden? Erinnern Sie sich, letztes Jahr, als Sie sich mit dem Hausmeister in der Ninety-eighth Street angelegt haben? Nun, sein Ersatz taugt überhaupt nichts. Falls Sie die Kramers ziehen lassen, sollten Sie sich vielleicht nach einem neuen Job umsehen. Wie ich höre, ist mein Neffe mal wieder arbeitslos. Er ist nicht dumm, eigentlich hat er sogar einiges auf dem Kasten. Und wenn er Ihre gemütliche Wohnung und Ihr Gehalt bekäme, dann würde er sich vielleicht auch ein bisschen mehr um mich kümmern.«
»Ich habe verstanden, Mr. Olsen.« Howard Altman war wütend auf seinen Arbeitgeber, noch mehr aber auf sich selbst. Er hatte es völlig falsch angepackt. Die Kramers waren so merkwürdig nervös gewesen, als Carolyn MacKenzie neulich bei ihnen aufgetaucht war. Warum? Wäre er nicht so blöd gewesen, hätte er herauszufinden versucht, was sie so beunruhigte. Im Stillen nahm er sich vor, den Grund aus ihnen herauszubringen, bevor es zu spät war. Ich will diesen Job behalten, dachte er. Koste es, was es wolle!1
Weder die Kramers noch Carolyn MacKenzie sollten ihm zum Verhängnis werden, schwor er sich.
24
»Die Hoffnung schwindet, dass Leesey Andrews noch lebend gefunden wird«, las Dr. David Andrews. Die neuesten Kurznachrichten liefen am unteren Rand über den Bildschirm. Er saß auf der Ledercouch im Fernsehzimmer in der Wohnung seines Sohnes an der Park Avenue. Weil er keinen Schlaf gefunden hatte, hatte er sich bereits vor der Morgendämmerung dorthin zurückgezogen. Irgendwann musste er dann doch eingenickt sein, denn kurz nachdem er gehört hatte, wie Gregg zu seiner Visite im Krankenhaus die Wohnung verließ, bemerkte er, dass jemand sorgfältig eine Decke über ihn gebreitet hatte.
Nun, drei Stunden später, saß er immer noch da, blickte auf den Fernseher und nickte dazwischen immer wieder ein. Ich sollte duschen und mich ankleiden, dachte er, aber er fühlte sich zu matt dazu. Die Uhr auf dem Kaminsims zeigte auf Viertel vor zehn. Und ich bin immer noch im Schlafanzug, dachte er – so kann’s nicht weitergehen. Er hob den Kopf und blickte auf den Bildschirm. Was hatte er da gerade gesehen? Ich muss es gelesen haben, denn der Ton ist ausgeschaltet, überlegte er.
Er griff nach der Fernbedienung und legte sie neben sich auf das Kissen, damit er den Ton sofort einschalten konnte, falls sie etwas über Leesey bringen würden.
Heute ist Sonntag, dachte er. Jetzt sind es schon mehr als fünf Tage. Was spüre ich überhaupt in diesem Augenblick?
Nichts. Weder Angst noch Trauer noch diese mörderische Wut auf denjenigen, der sie in seine Gewalt gebracht hat. Im Moment fühle ich einfach nur eine große Leere.
Das wird nicht lange andauern.
Die Hoffnung schwindet , dachte er. Habe
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